Sowjetisches-Deutsches Seminar

Alternativen zur "Atomfixiertheit"

von Lieselotte Wollny

Im April 1986, wenige Tage vor der Katastrophe von Tschernobyl befand sich eine Delegation der Grünen Partei zu politischen Gesprächen in Moskau. Ange­sichts der "Atomfixiertheit" der Sowjets wurde bei einem Gespräch mit dem ZK der KPdSU der Vorschlag gemacht, eine Seminarreihe in Moskau und in der BRD zu veranstalten. Dieses Seminar sollte dem Meinungsaustausch zwischen sowjetischen und deutschen Wissenschaftlern über die verschiedenen Möglich­keiten der zukünftigen Energieversorgung dienen.

Dann passierte das Unglück in Tschernobyl und darauf folgte ein Jahr Funkstille. Langsam liefen die Ver­handlungen wieder an und im Januar diesen Jahres konnte endlich das erste Seminar im Jagdschloß Göhrde nicht weit von Gorleben stattfinden. Das "Gegenseminar" veranstalteten die Sowjets dann vom 18. bis 22. Septem­ber in Moskau. An beiden Kolloquien nahmen von bundesdeutscher Seite Mitglieder und Bundestagsabgeord­nete der Grünen, kritische Wissen­schaftler von verschiedenen Instituten und Mitglieder von Bürgerinitiativen teil. Als Zuhörern und Diskutanten waren interessierte Bürger und Bürge­rinnen eingeladen.

Beim Seminar in Moskau saßen wir einer wechselnden Phalanx hochkarä­tiger sowjetischer Wissenschaftler ge­genüber, die samt und sonders harte Atomkraftbefürworter waren. Die Themen der Veranstaltung reichten von den Folgen des Tschernobyl-Un­glücks über die Reaktorsicherheit, die Hochtemperaturtechnologie und al­ternative Energieformen bis zu Urangewinnung und die Zwischen- und endlagerung von radioaktiven Abfäl­len.

Daß der nachfolgende Artikel von Prof. Lemeschew sich fast ausschließ­lich mit der Katastrophe von Tscher­nobyl beschäftigt, zeigt, welchen großen und schrecklichen Eindruck die Behandlung dieses Themas und be­sonders die Ignoranz der sowjetischen Politiker und Wissenschaftler auf die Zuhörer gemacht hatten. Das gesamte Seminar war von diesem Thema über­schattet und durchzogen. Das kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, daß unter den Gästen viele waren, die von der Katastrophe direkt oder indi­rekt betroffen waren. Bis heute schei­nen selbst die Verantwortlichen in der Sowjetunion ebenso wenig bereit zu sein, die Konsequenzen aus der Katastrophe zu ziehen, wie die Politiker in anderen Teilen der Welt. Die Bevölke­rung jedoch ist nicht gewillt, diesen Kurs mitzugehen, wie zum Teil wü­tende Proteste den völlig verdutzten und hilflosen Politikern und Wissen­schaftlern klarmachten.

Daß jedoch bei den Verantwortlichen die Bereitschaft besteht, sich auch mit Kritikern dieser Technologie ausein­anderzusetzen, ist äußerst positiv zu bewerten.

Inzwischen hat ein weiterer Kongreß zwischen Sowjets und dem Ökoinstitut Freiburg in Bonn stattgefunden, bei dem eine weitere Zusammenarbeit vereinbart wurde. Es ist zu hoffen, daß die Sowjetunion einen vernünftigen, Ressourcen schonenden Weg zu einer verstärkten Energienutzung beschrei­ten wird, die im Interesse des Ausbaus der sowjetischen Wirtschaft sicher notwendig ist.

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Lieselotte Wollny ist Bundestagsabge­ordnete der Grünen und Mitglied des Fraktionsvorstandes.