Buchbesprechung

Antimilitarismus und Gewaltfreiheit

von Christine Schweitzer
Hintergrund
Hintergrund

Die Geschichte des gewaltfreien Antimilitarismus, besonders seine Bezüge zu den sozialistischen und anarchistischen Bewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, ist das Thema dieser Studie des Politologen Gernot Jochheim (* 1942), die er als Dissertation in den 1970er Jahren verfasste. Die 2021 von Wolfram Beyer von der Internationale der Kriegsgegner*innen herausgegebene Fassung wurde vom Herausgeber sprachlich und inhaltlich leicht bearbeitet und lesbarer gemacht.

Sehr oft wird in Publikationen, die sich mit der Geschichte, der Idee und Praxis der Gewaltfreiheit beschäftigen, deren Ursprünge allein auf christliche Gruppen und Persönlichkeiten wie Leo Tolstoi zurückgeführt und von ihnen dann direkt zu Gandhi und dessen Einfluss auf die europäischen Bewegungen in den 1930er Jahren gesprochen. Und was die Geschichte des Antimilitarismus angeht, so tendieren die meisten Autor*innen dazu, dessen gewaltfreie Ausprägung unterzubelichten. Gernot Jochheim spricht von drei geografischen Zentren, in denen sich Vorstellungen von „aktivem gewaltlosem gesellschaftsveränderndem Handeln anscheinend grundsätzlich unabhängig voneinander und auf der Grundlage unterschiedlicher gesellschaftlicher Traditionen zu theoretisch ausformulierten Entwürfen entwickelt haben“ (S. 19): Gandhi in Südafrika und dann Indien, der deutsch-niederländische Sprachraum und der anglo-amerikanische Raum. Jochheim füllt eine Lücke, indem er mit großem Detailwissen die Diskussionen und Akteur*innen des gewaltfreien Antimilitarismus von seinen Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg vor allem in den Niederlanden beschreibt. Die Niederlande waren in dieser Zeit vielleicht das Land, wo die meisten Vertreter*innen dieser Denkrichtung lebten – genannt seien hier nur Henriette Roland-Holst, Clara Wichmann und Bart de Ligt. Vordenker*innen gab es auch schon am Ende des Ersten Weltkrieges im anarchistischen Antimilitarismus und in Gruppen der europäischen Arbeiterbewegung, doch es war in den Niederlanden, wo in den 1920er Jahren theoretische Entwürfe für eine gewaltfreie, „Soziale“ Revolution und bis Mitte der 1930er Jahre erste Konzepte Sozialer Verteidigung, der Abwehr eines Angriffs von außen durch gewaltfreie Mittel, entwickelt wurden.

Das Buch ist nach einer Einleitung, aus der hier oben zitiert wurde, weitgehend chronologisch aufgebaut. Es beginnt mit der antimilitaristischen und sozialistischen Bewegung in den Niederlanden bis 1914 und stellt dann in mehreren Kapiteln die Debatten und die Praxis in diesen Bewegungen, einschließlich des anarcho-syndikalistischen Anarchismus und der Sozialdemokratie dar. Daran schließt ein Kapitel über die Begründung der Gewaltfreiheit während des Ersten Weltkriegs, wozu besonders auch die Propagierung von Kriegsdienstverweigerung gehörte, an. Die weiteren Kapitel befassen sich dann mit der Zwischenkriegszeit, auch mit der Rolle, die die spanische Revolution und der Bürgerkrieg für die antimilitaristische Bewegung gespielt haben. (Manche zuvor gewaltfreie Aktivist*innen wandten sich angesichts des Bürgerkriegs der Befürwortung des bewaffneten Kampfes zu.)

Auch fast 45 Jahre nach dem Erscheinen der Dissertation ist das Buch höchst aktuell und stellt einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um die Rolle und Begründungen für gewaltfreies Handeln dar. Ganz nebenbei räumt es mit der – zurzeit des Erscheinens der Dissertation vielleicht mehr als heute diskutierten – Vorstellung auf, dass Anarchismus und Arbeiterbewegung allein auf Gewaltmittel zur Durchsetzung ihrer Ziele rekurrierten bzw. rekurrieren müssen. Es zeigt die wichtige Rolle, die Frauen schon damals in der Bewegung spielten; vielleicht in einem Maße, das sie bis heute nicht mehr erreicht haben. Und es ist der beste Beleg dafür, dass Gewaltfreiheit ein Aktionskonzept ist und nichts mit Passivität oder christlichen Erduldens-Vorstellungen zu tun haben muss, wie sie manchmal von der jüngeren Aktivist*innengeneration gesehen wird.

Jochheim, Gernot (2021) Antimilitarismus und Gewaltfreiheit. Die niederländische Diskussion in der internationalen anarchistischen und sozialistischen Bewegung 1890-1940. Heidelberg: Verlag graswurzelrevolution, ISBN 978-3-939045-441, 356 Seiten, 26,80 Euro

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.