Zunehmender Antisemitismus in Deutschland

Antisemitismus – Verständnisse, Kritik, Handeln

von Renate Wanie
Hintergrund
Hintergrund

Am 9. November 2021 jährten sich die vom nationalsozialistischen Regime organisierten antisemitischen Novemberpogrome von 1938 zum 83. Mal. Ein Anlass, um Antisemitismus und das Erstarken antisemitischer Diskriminierung in Deutschland zu thematisieren. Ein Auslöser der aktuellen öffentlichen Debatte sind judenfeindliche, stereotype Diskriminierungen und tätliche Angriffe auf Menschen, die eine Kippa tragen, oder bewaffnete tödliche Anschläge, wie auf die Synagoge in Halle (2019). Auch der israel-bezogene Antisemitismus ist ein aktuelles Problem. Welche Verständnisse von Antisemitismus liegen heute vor, in welchen Varianten kommt Antisemitismus vor? Ist eine postkoloniale Kritik am heutigen jüdischen Staat berechtigt?

Die Sprache der Judenfeindschaft deckt eine zweitausend Jahre alte, ja kulturell verankerte, Diffamierungsrhetorik auf. Im Wandel der Zeit wechselt sie ihre äußere Form, doch ihre Inhalte haben Kontinuität. Epochenübergreifend werden judeophobe Stereotypen über die Sprache reproduziert, sie bleiben so im kollektiven Bewusstsein erhalten. Hinzugekommen ist die Projektion judenfeindlicher Stereotype auf Israel. Altbekannte Verschwörungsideologien, wie z.B. „Finanzmacht“ des „Weltjudentums“, spielen noch immer eine Rolle.
In der zehnjährigen Studie des Bielefelder Sozialwissenschaftlers Wilhelm Heitmeyer über „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“„weisen Juden und Muslime eine Besonderheit auf. Anders als „People of Color“, Obdachlose oder Homosexuelle werden sie nicht (allein) deshalb abgewertet, diskriminiert oder Gewalt ausgesetzt, weil sie als anders, abweichend oder minderwertig markiert werden. Juden und Muslime stehen auch deshalb im Fokus rechter Bedrohungsallianzen, weil man in ihnen mächtige Akteure oder eine Bedrohung der Eigengruppe erblickt.“ (1) Nach Heitmeyer sei der „Fluchtpunkt“ immer der Untergang des deutschen Volkes.

Die Arbeitsdefinition der „International Holocaust Remembrance Alliance“
Am Ende eines Artikels im Friedensforum (6/2019) über Antisemitismus-Vorwürfe und die Folgen erwähnte ich, dass  keine einheitliche, allgemeinverbindliche Definition von Antisemitismus existiere. Neben der Definition des Politikwissenschaftlers Pfahl-Traughber (2) wies ich auf die verbreitete Arbeitsdefinition der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) aus dem Jahr 2016 hin: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen und religiöse Einrichtungen.“ (3) Im Jahr 2017 wurde diese Definition von der Bundesregierung um einen Satz erweitert und übernommen: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“ Schließlich wurde am 17. Mai 2019 die IHRA-Definition als Entschließung des Deutschen Bundestags verabschiedet. (4)

Doch es gibt auch Kritik an der IHRA-Definition: Der Nutzen der IHRA-Definition ist für das Erkennen und zur Bekämpfung von Antisemitismus umstritten. Kritisiert wird die IHRA-Formulierung, da sie vage formuliert sei. Moshe Zuckermann, israelischer Soziologe an der Universität in Tel Aviv, kritisiert die IHRA-Definition, sie erlaube es, „jede Art“ von Kritik an Israel als antisemitisch zu bezeichnen. So werden z.B. in Deutschland Menschen und Initiativen, die sich für eine gerechte Friedenslösung zwischen Israel und Palästina engagieren, zunehmend als antisemitisch bzw. anti-israelisch diffamiert. Auf diesem Hintergrund wurden deshalb Diskussionsveranstaltungen bundesweit vielfach abgesagt.

Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus
Seit März 2021 liegt eine weitere Begriffsbestimmung zum Antisemitismus vor: die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ (JDA, Jerusalem Declaration Antisemitismn).

Die in Jerusalem formulierte JDA-Definition lautet: „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).“ Ziel ist u.a., „eine anwendbare, prägnante und historisch fundierte Kerndefinition von Antisemitismus mit einer Reihe von Leitlinien für die Benutzung “. (5) Die Unterzeichner*innen aus Europa, Israel und den USA – eine große Gruppe von internationalen Wissenschaftler*innen aus der Antisemitismusforschung und verwandten Bereichen wie auch aus der Rechtswissenschaft und von Vertreter*innen der Zivilgesellschaft – sehen die JDA als ergänzende Alternative zur IHRA-Definition. Denn laut der JDA werde der Unterschied zwischen antisemitischer Rede und legitimer Kritik am Staat Israel und dem Zionismus in der IHRS verwischt. Zudem seien wichtige Punkte unklar und für unterschiedliche Interpretationen offen, sie habe Irritationen und Kontroversen ausgelöst, die „den Kampf gegen Antisemitismus“ geschwächt habe. Neben einer Präambel und Definition werden 15 Leitlinien formuliert und mit Beispielen konkretisiert, die „als solche antisemitisch“ und „nicht per se antisemitisch“ sind. So werden z.B. Boykott, Desinvestition und Sanktionen (wie in der BDS-Kampagne) als gängige gewaltfreie Formen politischen Protestes gegen Staaten – auch im Falle Israels – von den Autor*innen der Erklärung als nicht per se antisemitisch bezeichnet; unabhängig davon, ob man/frau „diese Handlung gutheißt oder nicht“. (ebd.)

Israel bezogener Antisemitismus
Anette Kahane, Gründerin der Amadeu-Antonio-Stiftung, weist auf den israelbezogenen Antisemitismus hin. Israel werde im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt zum „bösen Ort in der Welt“ stilisiert. Vor allem während der kriegerischen Auseinandersetzung mit der Hamas im Gazastreifen im Mai 2021 sei dies deutlich geworden. Juden und Jüdinnen seien angegriffen worden, es habe viele, auch schwere Körperverletzungen gegeben. (Frankfurter Rundschau am 09.11.2021)

Wilhelm Heitmeyer verweist indes auf repräsentative Umfragen der letzten zwei Jahrzehnte. Es habe sich gezeigt, dass der klassische Antisemitismus zurückgehe, während israelbezogener Antisemitismus deutlich ausgeprägter sei. (Statistik in: Heitmeyer 2020: 250). Heitmeyer spricht von einer „Umwegkommunikation“, die zunächst die Kritik an Israels Politik als zulässig erscheinen lässt und dann immer unverhüllter Kommunikationstabus im Privaten aufhebe und antisemitische Überzeugungen zulasse. Ein Forum für bisweilen anonyme Hasskommunikation bieten die sozialen Netzwerke.

Postkolonialismus und Antisemitismus
Ist schon Antisemit*in, wer Israel mit dem Südafrikanischen Apartheid-Regime vergleicht? Wie heikel diese Diskussion inzwischen auch im Jahr 2021 geworden ist, zeigt die hitzige öffentliche Debatte um die Frage, ob die zionistische Besetzung und Besiedlung des Westjordanlands Kolonialismus ist. Auslöser war ein Beitrag des wichtigsten Theoretikers des Postkolonialismus Achille Mbembe, 1957 in Kamerun geboren, zurzeit in Johannesburg lehrend, in dem er die Ermordung europäischer Juden mit dem Apartheid-System in Südafrika verglich. In der Öffentlichkeit wurde Mbembe die Gleichsetzung unterstellt. Micha Brumlik, emeritierter Erziehungswissenschaftler, drückte in einem Offenen Brief mit anderen internationalen Wissenschaftler*innen seine Solidarität mit seinem Kollegen aus. Brumlik: „Vergleich bedeutet nicht Gleichsetzung“. (6)

Was können wir gegen Antisemitismus tun?
Die Philosophin Hannah Arendt prophezeite im Jahr 1941: „Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Mond sicher.“ Um Antisemitismus im Jahr 2021 öffentlich etwas entgegen zu setzen und diskriminierende Strukturen gegenüber Jüdinnen und Juden aufzubrechen, werden exemplarisch Anregungen von Micha Brumlik aus seiner Veröffentlichung „Antisemitismus“, Reclam Junior Verlag, 2020, vorgestellt:

  • Internationale Öffentlichkeit für Menschenrechte herstellen
  • Umsetzung der Erklärung „Stockholm International Forum on the Holocaust“ (2000) zur Eindämmung von Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus
  • Die Ermordung der europäischen Juden zum zentralen Thema einer weltgesellschaftlichen Erinnerungskultur machen
  • In der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit: Jungen Menschen von Auschwitz erzählen und der „Würde des Menschen“ eine zentrale Rolle geben.
  • Einer antisemitischen Deutung des Nahostkonfliktes entgegenwirken
  • Realistische und nüchterne Auseinandersetzung mit der Geschichte und sozialen Wirklichkeit des Staates Israel sowie des Palästinakonfliktes.

Abschließend ein Zitat von Micha Brumlik und Gert Krell, emeritierter Professor für Internationale Beziehungen (Frankfurter Rundschau, 23.4.2021): „Wir sind dafür, Antisemitismus entschieden zu bekämpfen, aber auch, die israelische Besatzung und die weitere Landnahme von Gebieten, die völkerrechtlich den Palästinensern zugesprochen worden sind, zu kritisieren. Und wir plädieren dafür, postkoloniale Kritik ernst zu nehmen und fair zu rezipieren sowie mit ihr selbst kritisch und selbstkritisch umzugehen.“  

Anmerkungen
1 Heitmeyer, Wilhelm / Freiheit, Manuela / Sitzer, Peter: Rechte Bedrohungsallianzen, Edition Suhrkamp, 2020 (Studie von 2002-2012)
2 Pfahl-Traughber, Armin (2007): Antisemitismus und nicht-antisemitische Israel-Kritik. Eine Auseinandersetzung mit den Kriterien zur Unterscheidung. In: Aufklärung und Kritik, S. 49-58
3 https://www.holocaustremembrance.com/de/node/196
4 https://dserver.bundestag.de/btd/19/194/1919403.pdf
5 https://jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/2021/03/JDA-deutsch-...
6 https://www.deutschlandfunk.de/solidaritaetsbrief-fuer-achille-mbembe-ve...

Leseempfehlung: Brumlik, Micha: Postkolonialer Antisemitismus? Achille Mbembe, die palästinensische BDS-Bewegung und andere Aufreger. VSA-Verlag Hamburg, 2021

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