Atomare Rüstungspläne der NATO

von Hermann Scheer

Die NATO will ihre Atomrüstung in Europa in den 90er Jahren qualitativ und quantitativ erheblich ausbauen. Das geht aus einer Studie des Vorsitzenden der Arbeitsgruppe Abrüstung und Rüstungskontrolle der SPD-Bundestagsfraktion, Dr. Hermann Scheer, hervor, die Informationen der Friedensbewegung bestätigt. Scheer führte auf einer Pressekonferenz zur Vorstellung der Studie u.a. aus:

"Zwar soll sich bis zum Jahr 1992, den Zeitpunkt des Vollzugs des Abkom­mens über Mittelstreckenra­keten, die Zahl der amerikanischen Sprengköpfe von 4.318 (1988) auf 3.274 senken. Demgegenüber stehen aber - neben der bekannten Option auf eine "Mo­dernisierung" der Kurzstreckenraketen - folgende atomare Neurüstungen sowohl qualitativer (also technisch verbesserter) als auch quantitativer Art, die bisher durch nichts gebremst werden:

  • Die Modernisierung der atomaren Artillerie für die 175 Millimeter-Geschütze; die Produktion dieser neuen Sprengköpfe wird im Februar 1990 aufgenom­men (die Modernisierung der Sprengköpfe für die 203 Millime­ter-Geschütze ist inzwischen abgeschlos­sen).
  • Die Modernisierung der doppelt verwendbaren (atomar und kon­ventionell) Jagdflugzeuge wird fort­gesetzt. Anfang der 90er Jahre soll das E-Modell der F-15 für weiter­reichende Missionen voll eingeführt werden. Im Haushaltsjahr 1988 wurden 36 Maschinen beschafft, insgesamt sollen 392 Maschinen be­schafft werden.
  • Die Entwicklung einer Luft-Boden-Rakete, für die im Haushaltsjahr 1990 58 Millionen Dollar bean­tragt sind, 1991 sollen es 114 Millionen Dollar sein. Nach Vermutungen des jüngsten SIPRI-Jahrbuchs könnten hierzu die Sprengköpfe der abzurü­stenden Pershing II und der Marschflug­körper verwendet wer­den (nach jüngsten Pres­seberichten ist entsprechendes vom US-Senat verlangt worden), womit sich die Vermutung er­härtet, daß mit dieser Rakete der Mittelstreckenvertrag umgangen wird.
  • Offen ist noch die Entscheidung über eine seege­stützte Kurzstreckenra­kete, die auf Dezember 1990 ver­schoben worden ist.
  • Die Zahl der seegestützten amerika­nischen Sy­steme, die in europäi­schen Gewässern kreuzen, wird darüber hinaus bis 1995 von 944 auf 1.172 ansteigen.

Hinzu kommt die Vorverlegung von 60 amerikani­schen F-111-Flugzeugen nach Großbritannien, die mit je 2 Ab­standswaffen bestückt sind.

Darüber hinaus dürfen die britischen und französi­schen Atomrüstungen nicht übersehen werden, die im Ge­gensatz zur amerikanischen Atomrü­stung einen ausschließlich europäi­schen Bezug haben:

  • Großbritannien - das gegenwärtig über mindestens 128 strategische Sprengköpfe verfügt - wird nach Abschluß der Modernisierung der U-Boot-gestützten Raketen (Tri­dent) mindestens 458 Sprengköpfe haben.
  • Frankreich (gegenwärtig mindestens 256 see- und 18 landgestützte stra­tegische und 230 sonstige Atom­sprengköpfe) wird nach Abschluß der Modernisierung der U-Boot-gestützten Raketen über 576 strate­gische Sprengköpfe verfügen. Außerdem muß nach wie vor mit der Einführung der neuen Kurz­streckenrakete vom Typ Hades ge­rechnet werden.

Daraus ergibt sich:

  • Allein durch die Vorverlegung der 60 amerikani­schen F-111-Flugzeuge, den Aufbau der amerika­nischen seegestützten Marschflugkörper und die Vermehrung der britischen und französischen Systeme werden 1.000 Systeme neu eingeführt, die den Abbau der Mittelstreckenra­keten fast um das Doppelte über­treffen.
  • Wenn die weiteren atomaren Neurü­stungen durch­geführt sind, wird das atomare Potential der NATO qua­litativ erheblich ausgebaut sein - selbst für den Fall, daß eine Mo­dernisierung der Kurzstreckenra­keten unterbleibt. Diese Ge­fahr ist unübersehbar, da es bisher nicht die geringste Neigung in der NATO gibt, diese ato­maren Neurüstungen zu kürzen oder über eine Abrüstung bei entsprechenden sowjetischen Ge­genleistungen zu verhandeln. Es gibt noch nicht einmal entspre­chende Forderungen, weil es we­gen der nahezu ausschließlichen Fixie­rung der politischen Debatte auf die Kurzstreckenraketen bisher nicht einmal ein ausreichendes Problem­bewußtsein über die atomaren Rü­stungsgefahren gibt."

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