Atomkraft am Ende

von Wolfgang Ehmke

In der DDR herrschte  in den 70er Jahren Aufbruch- und Siegesstimmung. Schließlich ging mit dem KKW Rheinsberg im Oktober 1966 der erste Reaktor ans Netz, im Wettlauf mit dem BRD-Kapitalismus, drei Monate vor der Inbetriebnahme des AKW Gundremmingen, hatte man die Nase vorn. Mit den Reaktorunfällen von Harrisburg 1979 und Tschernobyl 1986 waren sowohl die Symbiose von Atomenergie und Sozialismus als auch der kapitalistische Machbarkeitsmythos geplatzt und Gegenbewegungen jenseits ideologischer Verkrustungen hervorgerufen. Das ist die Provenienz der Anti-AKW-Bewegung.

Atomkraftwerke repräsentieren eine Technologie, die nicht beherrschbar ist. Sicher ist nur das Risiko. Wir wollen aber nicht mit einem Restrisiko leben, das uns den Rest gibt. Selbst wenn die Technologie beherrschbar wäre, so wäre allein die Unmöglichkeit, ihr "Abprodukt", den hochstrahlenden und giftigen Atommüll sicher zu verwahren, ein zwingender und überzeugender Grund, die sofortige Stilllegung der Atomkraftwerke weltweit zu fordern, denn es gibt kein sicheres Endlager.

Zivile und militärische Nutzung gehen Hand in Hand
Der Aufstieg der Atomwirtschaft in der "alten" BRD lässt sich nicht losgelöst von der möglichen militärischen Nutzung, der Teilhabe an nuklearen Waffenarsenalen, sehen. Konsequent war es, dass Franz Josef Strauß am 6. Oktober 1955 von Konrad Adenauer als "Atomminister" berufen wurde. Das erste "Atom-Ei" in Garching/München und das ehemalige Kernforschungszentrum Karlsruhe mit einer Wiederaufarbeitungsanlage gehen auf diese erste Phase zurück, über die Forschung und die NATO-Mitgliedschaft auch zu einer nuklearen Schwellenmacht zu avancieren. Nukleare Teilhabe, der Zugang zur Bombe - das ist immer noch die Treibkraft für einige Länder, die neuerdings Interesse an der Nutzung der Atomenergie anmelden. Wenn es aber um den Verkauf von AKW-Komponenten und den Zuschlag beim Bau von Atomkraftwerken geht, wird diese augenscheinliche Form der Proliferation ausgeblendet. Als Lobbyist der französischen Atomwirtschaft tingelt der französische Staatspräsidenten Nikolas Sarkozy im Mittelmeerraum herum. Die schwarz-gelbe Bundesregierung sichert mit Hermes-Bürgschaften den Bau von Atomkraftwerken finanziell ab. Die Urananreicherungsanlage in Gronau ist eine solche zivil-militärische Anlage auf deutschem Boden, wer sich also über das erste AKW im Iran und die Urananreicherung erregt, der muss sich die Rückfrage gefallen lassen, warum nicht die gleiche Aufregung um Gronau herrscht. Der Plutoniumbunker in Hanau wurde erst 2005 geräumt, dort lagerte waffenfähiges Plutonium. Aber es geht auch schmutzig: Radioaktive "Abfallstoffe", Bomben mit abgereichertem Uran, kamen bekanntlich in Serbien und dem Irak zum Einsatz …

Schwarz/Gelb als geschäftsführender Ausschuss der Atomkonzerne
Zehn Monate hatten CDU/CSU und FDP Zeit, um sich über die künftige Energiepolitik zu verständigen. Energiepolitik aus einem Guss wurde angekündigt. Herausgekommen ist Stuss: die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke von durchschnittlich 12 Jahren. Gegen alle energiepolitische Vernunft bedient Schwarz/Gelb die Profitinteressen der "Viererbande" E.on, RWE, EnBW und Vattenfall.

"Muttis Bester", der Bundesumweltminister Norbert Röttgen, wurde in der Schlussphase, als es um die Milliardenbeträge ging, die aus der Laufzeitverlängerung resultieren, nicht mal an den Verhandlungstisch gebeten, schließlich hatte er zu sehr betont, die Atomkraft dürfe kein "Alleinstellungsmerkmal" der CDU sein. Die gesellschaftlichen Widerstände gegen die Atomkraft seien zu groß, erklärte Röttgen und bewies damit einmal Weitsicht: "Kernenergie hat auch nach vierzig Jahren keine hinreichende Akzeptanz in der Bevölkerung." (SZ, 6.2.10)

In den acht Jahren, in denen der Atomausstieg seit dem sogenannten "Atomkompromiss" im Jahr 2000 stattfinden sollte, hat es nur zwei kleinere Kraftwerke gegeben, die stillgelegt wurden, Obrigheim und Stade, unter anderem weil deren Nachrüstung viel zu teuer geworden wäre. Der rot-grüne "Atomausstieg" erwies sich bei nüchterner Betrachtung als zahnloses Instrument, denn die Konzerne konnten durch die Übertragbarkeit von Stromkontingenten die Meiler durch das wechselnde politische Fahrwasser schippern und – sofern ein älteres AKW steuerlich abgeschrieben war – täglich 1 Mio. Euro kassieren.

Jetzt standen aber einige "Brocken" an, die Stilllegung der Reaktoren aus den siebziger Jahren – dazu gehören die Siedewasserreaktoren Brunsbüttel, Isar 1, Philippsburg und Krümmel sowie die Druckwasserreaktoren Biblis A und B, Neckarwestheim 1 und Unterweser.

Ohne Staatsknete lief nichts
Zurück zu den deutschen Verhältnissen: Ohne Subventionen hätte die Atomwirtschaft im Übrigen auch den Start in den 50er Jahren verpasst. Die Summe direkt berechenbarer Begünstigungen für den Zeitraum 1956 bis 2006 beträgt nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) 45,2 Milliarden Euro. (FR 8.11.2010) Überschlägt man die Forschungsausgaben der Bundesländer und der EU, so lagen die öffentlichen Ausgaben für die Atomenergie in diesem Zeitraum bei etwa 50 Milliarden Euro. Das DIW hat die öffentlichen Ausgaben - bezogen auf eine kumulierte atomare Stromerzeugung von rund 4.100 Terra Wattstunden bis Ende 2006 - auf eine Kilowattstunde Atomstrom umgerechnet: Es ergibt sich ein Subventionsbetrag von 1,2 Eurocent pro Kilowattstunde. Die verheerendsten externen Kosten, nämlich die volkswirtschaftlichen Kosten für einen Super-GAU, liegen nach Berechnungen des Bundeswirtschaftsministeriums bei 5.000 Milliarden Euro. 2001 wurde die Deckungsvorsorge für Reaktorunfälle auf nur 2,5 Milliarden Euro erhöht. Würde hingegen das volle Risiko versichert, würde sich eine Kilowattstunde Atomstrom um 5 Eurocent erhöhen.

Wo bleiben die Konzerne, wenn es um die Kosten für die Sanierung des Uranabbaugebiets Wismut (ca. 6,4 Mrd.Euro), des Rückbaus und der Sanierung der Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe (2,3 Mrd. Euro), die Sanierung der havarierten Atommüllendlager Asse II und Morsleben (geschätzt weit über 5 Mrd. Euro) und so fort geht – diese Kosten trugen und tragen die Steuerzahler. Gleichzeitig horten die AKW-Betreiber 29 Mrd. Euro Rückstellungen für den Rückbau von Atomanlagen und die Atommüllentsorgung, steuerfrei! Parlamentarier aller Bundesländer: Dieses Geld, nicht die Extragewinne aus der Verlängerung von Laufzeiten, gehört in einen öffentlich-rechtlichen Fonds.

Bändigt die Macht der Oligopole!
Die Frage, ob die politische Auseinandersetzung um den Weiterbetrieb zumindest der sieben ältesten AKW "lohnt", lässt sich im Übrigen auch daran messen, dass deren Anteil an der gesamten Stromerzeugung in Deutschland in den vergangenen vier Jahren nur noch 6,9 Prozent betrug, 2007 kamen sie als Folge der Pannen und Stillstände nur noch auf  4,8 Prozent. Im ersten Quartal 2010 erzielte die Bundesrepublik mit gut 9 Milliarden Kilowattstunden den höchsten Exportüberschuss ihrer Geschichte. Damit wurde im ersten Quartal in Deutschland 6,7 Prozent mehr Strom erzeugt als verbraucht – obwohl die Atomkraftwerke Krümmel und Brunsbüttel nicht eine einzige Kilowattstunde produzierten. Der Exportüberschuss entsprach ziemlich exakt jener Menge, die in der gleichen Zeit in den alten Reaktoren Biblis A und B, Neckarwestheim I, Isar 1, Philippsburg 1 und Grafenrheinfeld erzeugt wurde.

Das bedeutet: Deutschland hätte auf acht Atomkraftwerke verzichten können - und hätte selbst dann noch eine ausgeglichene Bilanz. (taz 1.07.10) Daraus folgt: Je höher die "Ertüchtigungskosten", desto geringer ist die Aussicht auf einen unbegrenzten Weiterbetrieb. In jedem Fall rücken bei einer Deregulierung der Laufzeiten für AKW die Sicherheitsanforderungen in den Fokus der Auseinandersetzungen, denn es geht ja um die pannenreichen Atomkraftwerke - das wird der Branche eher schaden als nutzen. Daraus folgt: Je mehr wir auf das Thema Sicherheit setzen, desto weniger rentiert sich der Weiterbetrieb einiger Alt-Anlagen. Je mehr wir auf das Thema ungelöste Atommüllentsorgung pochen, desto einleuchtender wird die Forderung nach dem endgültigen Ende des nuklearen Zeitalters.

Es muss unser gemeinsames Ziel sein, die Logik zu durchbrechen, die da lautet: Privatisierung der Gewinne auf der einen Seite – Vergesellschaftung der Folgeschäden aus der Implementierung der Atomkraft auf der anderen Seite. Rütteln wir an den Machtverhältnissen: Die strukturellen Lösungen liegen auf der Hand, das sind die Rekommunalisierung und Dezentralisierung der Energieerzeugung. Daneben und umso heftiger drängt sich die Forderung auf nach der Vergesellschaftung der Oligopole E.on, RWE, EnBW und Vattenfall und der Schließung aller AKWs auf.

Einstürzende Brücken
Umweltminister Norbert Röttgen lieferte selbst die Argumente gegen die Atomkraft als Brücke, zwar mochte er kein Datum für das Abschalten von Kraftwerken nennen, dafür nannte er das Ziel: "Der Ökostromanteil muss noch von heute 16 auf 40 Prozent ansteigen, dann ist es soweit. Selbst nach den skeptischsten Annahmen ist das 2030 der Fall." (FR 19.2.10) Die neueste Prognose des Bundesumweltministeriums besagt: Bis 2020 wird der Anteil von Wind- und Wasserkraft, Solarenergie und Biomasse an der Elektrizitätserzeugung bereits 38,6 Prozent betragen - das wäre mehr als eine Verdoppelung binnen eines Jahrzehnts. Damit würden die erneuerbaren Energien den Atomstrom zumindest rechnerisch bereits 2021 überflüssig machen. Die Prognose entstammt dem Entwurf für den "Nationalen Aktionsplan für erneuerbare Energie". (FR 1.07.10) Würde das gepaart mit Investitionen in Speichertechniken und die verlustarmen Hochspannungs-Gleichstrom-Übertragungsnetze (HGÜ), dann gäb es keine Debatte mehr um Stromlücken, Grundlast und Versorgungssicherheit.

Als falsche Weichenstellung bewertet der Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE)  von Anbeginn den Beschluss, die Laufzeiten der Atomkraftwerke zu deregulieren. Mit längeren Laufzeiten für Kernkraftwerke droht die zunehmende Verstopfung der Stromnetze und eine Einschränkung des Vorranges für Erneuerbare. (Quelle: BEE zur Koalitionsvereinbarung, 24.10.09) Front gegen die Fortsetzung des nuklearen Abenteuers macht auch der Verband der kommunalen Energieversorger. Nicht nur der BEE opponiert, auch der Verband kommunaler Unternehmen (VKU), der rund 1.400 Energie-, Wasser- und Abfallunternehmen repräsentiert, sieht sich durch eine Verlängerung der Laufzeiten besonders betroffen, weil die Stadtwerke ihre Investitionen in umweltfreundliche Kraftwerke, die im Vertrauen auf den Atomausstieg getroffen wurden, gefährdet sehen.

Das energiepolitische Ziel lässt sich klar umreißen: Es geht nicht um die Atomkraft allein, es geht um einen klaren Kurswechsel der Energiepolitik. Energiesparen, Energieeffizienz, Erneuerbare – das befördert auch die Beschäftigung, das bringt – dank der Regionalisierung der Energiegewinnung Steuereinnahmen für die Kommunen. Atomkraft oder Erneuerbare – das ist hier die Frage. Die energiepolitische Zukunft hat längst begonnen, doch die Regierungskaste hat sich bei der Diskussion über die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken in einem ideologischen Grundsatzstreit verkeilt, der am Ende nur Verlierer sehen wird, wenn wir sie gewähren lassen.

Die Anti-AKW-Bewegung ist wieder da!
Umweltverbände und Anti-Atom-Initiativen setzen in ihrer Kritik an der Atomkraft originär an der mangelnden Sicherheit und der ungelösten Atommüllproblematik an. Für uns ist der Kurs von Schwarz-Gelb auf dem Hintergrund pekuniärer Verteilungskämpfe von daher eine Steilvorlage. Sicherheit ist nicht verhandelbar, die Atommüllentsorgung ein reines Fiasko.

Nach der großen Anti-Atom-Demonstration am 5. September 2009 in Berlin sind die Aktivitäten der Atomkraftgegner nicht abgerissen. Die Koalitionsverhandlungen von Schwarz-Gelb waren von dauerhaftem Protest begleitet. Die bundesweit agierende Anti-Atom-Initiative .ausgestrahlt hatte in Berlin eine "ständige Vertretung" eingerichtet. In Gorleben und in Morsleben stiegen Aktivisten auf Fördertürme, über 10.000 Einwendungen kamen gegen das Schließungskonzept in Morsleben zusammen und in Ahaus demonstrierten kurz vor Weihnachten bei Schnee und Eis 350 Menschen gegen die Wiederaufnahme der Atommülltransporte ins dortige Zwischenlager. Flash-Mobs und demonstrative Spaziergänge, Liegestuhlaktionen ("Schalt doch mal ab!)" gab es in über 100 Orten. Am 24. April 2010 treckten wir aus dem Wendland nach Krümmel, über 120.000 Menschen bildeten zwischen Krümmel und Brunsbüttel eine Aktionskette, in Biblis umzingelten 20.000 Menschen die beiden Reaktorblöcke und in Ahaus demonstrierten erneut 5000 Menschen. Im Herbst ging es Schlag auf Schlag: am 18. September 2010 demonstrierten erneut 100.000 Menschen im Berliner Regierungsviertel. Und nachdem das Moratorium im Salzbergwerk in Gorleben aufgehoben wurde, kamen 50.000 ins Wendland. Der Castor- Transport ins dortige Zwischenlager Anfang November signalisierte, man kann den Müll von A nach B transportieren, aber nirgendwo in der Welt existiert bisher ein Endlager für hochradioaktive Abfälle. Dass es so lange dauert, hat einen Grund: wie soll für eine Million Jahre, für 30.000 Generationen garantiert werden, dass dieses Gift sicher von der Biosphäre abgeschlossen bleibt? In der Asse II hat es nur 30 Jahre, eine Generation, gedauert bis zur Havarie. Zehntausende sind mit uns im November auf die Straße gegangen: Das Wiedererstarken der Anti-AKW-Bewegung ist kein Strohfeuer. Wir haben viele Trecker, gute Anwälte und einen langen Atem. Wie hieß es so schön bei Stuttgart 21? Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei. Jetzt sagen wir, nach 34 Jahren Auseinandersetzung um Gorleben, es ist vorbei: Gorleben gehört auf den Misthaufen der Nukleargeschichte.

Auf Wiedersehen im November 2011 im Wendland beim näXten Castor-Transport!

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Wolfgang Ehmke ist Sprecher der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. www.bi-luechow-dannenberg.de buero@bi-luechow-dannenberg.de.