Geheimhaltung, Lügen und historisches Fehlverhalten

Atomwaffen in Belgien

von Merel Selleslach

Seit 1963 hat Belgien die zweifelhafte Ehre, zusammen mit Deutschland, Italien, den Niederlanden und der Türkei eines von fünf Ländern zu sein, die US-Atomwaffen in Europa beherbergen. Derzeit sind etwa zwanzig B61-Bomben auf dem Luftwaffenstützpunkt Kleine Brogel stationiert. Diese sollen bald zu B61-12-Bomben aufgerüstet werden, die noch gefährlicher sind. Die Bomben sind wahrscheinlich das bestgehütete Geheimnis in Belgien. Zum Glück hat das weder die Belgier*innen noch die internationale Friedensbewegung aufgehalten.

Wie in vielen anderen Ländern haben Atomwaffen auch in Belgien eine Aura der Geheimhaltung und einer undemokratischen Politik. Dies sollte nicht überraschen, wenn man weiß, dass die Bomben in Belgien durch Lügen der Regierung stationiert wurden. Wir müssen 50 Jahre zurückgehen, um das historische Fehlverhalten zu verstehen.

Im Jahr 1962 stimmte das belgische Parlament für ein Gesetz, das die Durchreise von NATO-Truppen durch das Land erlaubte. Dies war notwendig, weil die Verfassung keine ausländischen Truppen auf dem Staatsgebiet zuließ. Das Parlament wollte jedoch verhindern, dass dieses Gesetz dazu benutzt wird, Atomwaffen in Belgien zuzulassen. Es schlug daher einen Artikel vor, der Atomwaffen ausdrücklich aus dem Gesetz ausschließt. Nachdem der damalige Außenminister den Parlamentarier*innen versichert hatte, dass die Regierung niemals versuchen würde, Atomwaffen in Belgien zu stationieren, ließ das Parlament den Artikel fallen. Ein Jahr später wurde klar, dass die Bevölkerung und das Parlament belogen worden waren, als die Bomben in Kleine Brogel eintrafen. Die Entscheidung, die Waffen in Belgien zu stationieren, war bereits getroffen worden, bevor das Gesetz von 1962 vom Parlament verabschiedet wurde.

Die Tatsache, dass die Regierung das Vorhandensein von Atomwaffen in Belgien immer noch leugnet und nicht bestätigt, macht es dem Parlament schwer, eine offene Diskussion über ihren Nutzen und die Sicherheit der belgischen Bevölkerung zu führen.

Belgien - ein Befürworter der nuklearen Abrüstung?
Jede neue Regierung bekräftigt ihre Unterstützung für eine atomwaffenfreie Welt, wartet aber immer noch auf praktische Schritte hin zu einer echten Abrüstung. Belgien hält den Atomwaffensperrvertrag (NVV) für den Eckpfeiler der weltweiten Nichtverbreitung von Kernwaffen und der Abrüstung. Während die meisten NVV-Schlussfolgerungen der letzten zwei Jahrzehnte hohle Phrasen blieben, arbeitete eine Mehrheit der Staaten zusammen mit der Zivilgesellschaft hart an einer echten nuklearen Abrüstung. Das Ergebnis war die Annahme des UN-Vertrags über das Verbot von Atomwaffen (TPNW) durch 122 Staaten im Jahr 2017. Ein historischer Meilenstein, der die Atomwaffenstaaten endlich auf den gleichen Standard bringt wie die Staaten ohne Atomwaffen. Leider hat sich Belgien nicht an den Verhandlungen beteiligt und, was noch schlimmer ist, den neuen Vertrag gemeinsam mit seinen NATO-Verbündeten aktiv sabotiert. Nichtsdestotrotz sind die B61 in Kleine Brogel dank der TPNW ab sofort völkerrechtlich illegal. Die TPNW hilft uns, erneut Druck auf die Regierung auszuüben, damit sie endlich konkrete Schritte in Richtung echter Abrüstung unternimmt.

Der öffentliche Widerstand bleibt stark
Die belgische Bevölkerung hat schon immer eine starke Opposition gegen Atomwaffen gezeigt. Im Jahr 1984 fanden in Brüssel die größten nationalen Proteste aller Zeiten statt. Zusammen mit Menschen aus der ganzen Welt kamen 400.000 Menschen in die Hauptstadt, um gegen das atomare Wettrüsten und die Aufstellung neuer Atomraketen in Europa und Belgien zu protestieren.

Mehrere Friedensorganisationen aus ganz Belgien haben sich in einer Koalition gegen Atomwaffen organisiert. Die Koalition versucht, über ihre eigenen Kreise hinaus zu wirken, wobei auch Gewerkschaften und andere Akteure der Zivilgesellschaft Mitglieder der Plattform sind. Durch Aktivitäten mit der Öffentlichkeit, die Organisation von Demonstrationen, die Verbreitung von Petitionen und Aktionen des Zivilen Ungehorsams ist es ihnen gelungen, das Thema wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen.

Heute, fast 40 Jahre nach 1984, gibt es immer noch starken Widerstand gegen Atomwaffen. Vor einigen Jahren wurde eine Petition, die die Regierung aufforderte, keine 34 atomwaffenfähigen F35-Kampfjets zu kaufen, von mehr als 35 000 Menschen unterzeichnet. Laut einer YouGov-Umfrage vom November 2020 will eine Mehrheit der belgischen Bevölkerung, dass die B61 vom Kleinen Brogel abgezogen werden. Noch stärker ist die Unterstützung für den Atomwaffenverbotsvertrag: 77 % der Belgier*innen wollen, dass ihre Regierung den Vertrag unterzeichnet. Trotz der Corona-Beschränkungen zogen die Menschen feierlich vor das Außenministerium, um das Inkrafttreten des Vertrags im Januar 2021 anzukündigen. Außerdem kündigte eine der größten belgischen Banken an, dass sie nicht mehr in Atomwaffenaktivitäten investieren werde.

Erneute Hoffnung
Der Druck, der von der NATO ausgeht, ist nicht zu unterschätzen, aber es zeigen sich erste Risse, vor allem durch das Verhalten von zwei Stationierungsländern. Die Niederlande waren unter dem Druck der niederländischen Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft der einzige NATO-Staat, der bei den AVV-Verhandlungen 2017 dabei war. Kürzlich beschloss die neue belgische Regierung, „zu prüfen, wie der multilaterale Nichtverbreitungsrahmen gestärkt werden kann und wie der UN-Vertrag über das Verbot von Kernwaffen der multilateralen nuklearen Abrüstung neue Impulse verleihen kann". Es liegt auf der Hand, dass die Bevölkerungen der NATO-Stationierungsländer mit dem Status quo nicht mehr einverstanden sind.

Daher ist es wichtig, dass die Anti-Atomwaffen-Bewegung grenzüberschreitend zusammenarbeitet, um die Kräfte zu bündeln. Am 26. September, dem Internationalen Tag für die vollständige Abschaffung von Atomwaffen, versammelten wir uns mit belgischen, niederländischen und deutschen Aktivist*innen, um eine Menschenkette um den Luftwaffenstützpunkt Kleine Brogel zu bilden. Unsere Botschaft wird laut und deutlich sein: Die B61 in Europa sind illegal! Wir wollen eine atomwaffenfreie Zone in Europa. Die Aktion wird von Aktivist*innen in Italien und dem Vereinigten Königreich aufgegriffen werden.

Ausgabe

Rubrik

Friedensbewegung international
Merel Selleslach arbeitet bei Pax Christi Vlaanderen zu nuklearer Abrüstung, autonomen Waffensystemen und Themen im Zusammenhang mit internationalem Frieden und Sicherheit. Als solche ist sie ein aktives Mitglied der belgischen Anti-Atomkraft-Bewegung.