Auf dem Weg zur EU-Atombombe?

von Gerald Oberansmayr

Paris und London rüsten atomar auf. Berlin will die „europäische Atombombe". In Wien finden sich willige Assistenten. Und die Friedensbewegung bringt einen vorlauten Militaristen ins Stolpern.

Der Schwerpunkt der EU-Militarisierung liegt derzeit auf dem Aufbau von konventionellen Interventionsstreitkräften. Unter dem Titel „Headlinegoal 2010" wird daran gearbeitet, die militärischen Fähigkeiten für Angriffskriege nach dem Vorbild des Jugoslawien-, Afghanistan- und Irakkriegs zu erlangen: EU-Battlegroups, Lufttransportkapazitäten, Flugzeugträger, Marschflugkörper, Kampfbomber und weltraumgestützte Navigations- und Aufklärungssysteme. Doch hinter der konventionellen Aufrüstung laufen auch ambitionierte Atomrüstungsprogramme in den EU-Staaten Frankreich und Großbritannien.

Atompläne in Paris, London und Berlin

Im französischen Militärprogrammgesetz 2002 bis 2008 sind 17 Milliarden Euro für die Modernisierung der französischen Atomwaffen veranschlagt: neue Lang- und Mittelstreckenraketen, neue Atom-U-Boote als Abschussbasen für die Nuklearraketen und - last but not least - neue Sprengköpfe, die sog. ,,Mininukes", mit denen man „einen Bunker treffen und in seinem Inneren eine Atomexplosion auslösen kann", wie die französische Verteidigungsministerin in der Zeitung „Liberation" zitiert wird (27.10.2003). Auch in Großbritannien steht ein neues Atomprogramm auf der Tagesordnung der Blair-Regierung: die jährlichen Ausgaben für die britische Atomstreitmacht sollen von 450 Millionen (2005) auf 2,2 Milliarden Euro (2007) vervierfacht werden. Auch die deutschen Machteliten möchten den Finger an den roten Knopf bekommen. Da der nationale Weg zur Atombombe auf Grund des Atomwaffensperrvertrages verstellt ist, versucht man in Berlin über die „Europäisierung der Atomwaffen" zur Atombombenmacht zu werden. Einer der einflussreichsten Think-Tanks der deutschen Außenpolitik, das von der deutschen Regierung, EU-Kommission und dem Bertelsmann-Verlag finanzierte „Centrum für Angewandte Politikforschung" spricht das offen aus: ,,Nur im Szenario Supermacht Europa wird das große Europa seinem objektiven Weltmachtpotential gerecht.(...) Der Aufbau der Vereinten Europäischen Strategischen Streitkräfte, die sich unter einem gemeinsamen europäischen Oberkommando des Atomwaffenpotenzials Frankreichs und Großbritanniens bedienen können, wird die internationale Rolle der EU verändern.(...) Die Supermacht Europa verabschiedet sich endgültig von der Idee einer Zivilmacht und bedient sich uneingeschränkt der Mittel internationaler Machtpolitik." [1] Der Führungsstab der deutschen Bundeswehr hat im Jahr 2003 die „Überführung nationaler Atomwaffenpotenziale einiger EU-Staaten in integrierte europäische Streitkräfte" gefordert (,,Ein Heer für Europa", SZ, 29.4.2003) Auf der EU-Ebene ist das deutsche Drängen bereits angekommen. In einem von den EU-Staatschefs in Auftrag gegebenen Strategiepapier (European Defence Paper") aus dem Jahr 2004 heißt es, dass die EU sich für „Expeditionskriegszüge" zum „Stabilitätsexport zum Schutz der Handelswege und des freien Flusses von Rohstoffen'' rüsten müsse. Dabei sollen ,,die französischen und die britischen Atomwaffen explizit oder implizit einbezogen werden.“ [2] Auch der französische Präsident deutete im Jänner dieses Jahres die europäische Dimension der französischen Atomwaffen an. In einer aufsehenerregenden Rede am Atomwaffenstützpunkt Ile Langue in der Bretagne drohte Chirac mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen zur „Sicherstellung unserer strategischen Versorgung und der unserer Alliierten". Die deutsche Kanzlerin Merkel sprang Chirac sofort zur Seite und unterstützte dessen Atomkriegspläne als „eine den aktuellen Veränderungen in der Welt angepasste Doktrin".

„Atomwaffen im Ernstfall auch einsetzen"

Die Äußerung von Chriac war Anlass, dass sich auch in Österreich einer der höchsten Beamten im Verteidigungsministerium, Erich Reiter, öffentlich zu Wort meldete: Erich Reiter, Beauftragter für Sicherheitsfragen und graue Eminenz der österreichischen Militärpolitik, forderte in zwei Zeitungsinterviews - ganz auf der Linie der Berliner Außenpolitik - die „Europäisierung der Atomwaffen": ,,Die EU sollte eine Position haben, ob und wann Atomwaffen eingesetzt werden. Eigentlich müssten Briten und Franzosen ihre Atomwaffen in den Dienst Europas stellen, das heißt Europäisierung der Atomwaffen(...) Engländer und Franzosen müssen sich bewusst sein, dass Aussagen wie jene Chiracs für ganz Europa entscheidend sind. Allein aus diesem Umstand sehen wir, dass eigentlich europäisiert werden müsste. Denn wir sind mitgehangen, mitgefangen. ,,Reiters abschließendes Resümee: ,,Alle EU-Völker sollen an der Atombombe teilhaben" und „sie im Ernstfall auch einsetzen". [3]

Friedensbewegung bringt Atomfan ins Stolpern

Nach diesen ungeheuerlichen Aussagen von Erich Reiter passierte zunächst zwei Wochen überhaupt nichts. Erst als ausgehend von einer Initiative der Werkstatt Frieden &Solidarität die Friedens- und Antiatombewegung die Regierung öffentlich unter Druck bringen konnte und sich auch einige Abgeordnete der Parlamentsopposition diesem Protest anschlossen, reagierte Verteidigungsminister Platter. Er suspendierte Erich Reiter von seinem Dienst im Verteidigungsministerium. Das ist zunächst ein Erfolg der Friedensbewegung. Denn ohne unsere Aktivität wäre gar nichts passiert. Offensichtlich dienten die Äußerungen des kurz vor seiner Pensionierung stehenden Reiter dazu, einen Testballon zu starten, auf welchen Widerstand solche Atombombenpläne stoßen würden. Und dieser Widerstand war offensichtlich groß genug um den Atomfan im Verteidigungsministerium fallen zu lassen. Entwarnung ist deshalb jedoch keineswegs angesagt. Einerseits wird die konventionelle Militarisierung der EU in der Zeit der österreichischen EU-Präsidentschaft eifrig vorangetrieben. Ein „Streitkräftekatalog" zur Umsetzung des „Headlinegoals 2010", Militäreinsätze in Zentralafrika, die rasche Einsetzbarkeit von Battle-Groups, usw. stehen ganz oben auf der EU-Agenda. Andererseits sind die Atom-Ausritte von Erich Reiterin der österreichischen Innenpolitik nicht ohne Unterstützung geblieben. Massive Unterstützung für Erich Reiter kommt einerseits aus dem rechtsextrem-freiheitlichen Lager, dem er selbst entstammt. In der Postille „Zur Zeit" des FPÖ-Rechtsaußen und EU-Parlamentarier Andreas Mölzer darf Erich Reiter „militärische Maßnahmen - ohne UN-Mandat - gegen Iran" laut andenken [4], die FPÖ-Abspaltung BZÖ lässt Erich Reiter demonstrativ auf ihrer Parteitagung auftreten und attackiert den Koalitionspartner ÖVP heftig für die Suspendierung des Militaristen. Und die parlamentarische Opposition? Zwar haben sich einige Abgeordnete der SPÖ hinter die Forderungen der Friedensbewegung nach Abberufung von Reiter gestellt, doch gerade der Europa-Sprecher der SPÖ, Caspar Einem, verteidigte in einem Zeitungskommentar den ex-Sektionschef. Für Einem haben „Atomwaffen ihren größten politischen Nutzen, indem sie sicherstellen, dass deren Besitzer politisch ernst genommen werden". (Standard, 13.2.2006) In den Augen des sozialdemokratischen Europasprechers hat offensichtlich nur diejenigen politisches Gewicht, die die Welt oder zumindest hunderttausende Menschen auf einen Schlag auslöschen können. Auf die Frage an die SPÖ-Führung, wie sie zu den Äußerungen ihres Europasprechers stehe, kam bis dato keine Antwort.

Das zeigt: Erich Reiter ist kein atomverrückter Einzelgänger. Er hat bloß ausgesprochen, was unter den EU-Machteliten bereits diskutiert und vorbereitet wird: die atomare Aufrüstung der EU auf dem Weg zur militärischen Supermacht. Unser Druck hat bewirkt, dass ein vorlauter Militarist im österreichischen Verteidigungsministerium fallengelassen werden musste. Jetzt gilt es umso mehr, den Druck auf die Militarisierer in den Stockwerken darüber zu erhöhen. Für die österreichische Friedensbewegung ist dabei die Verteidigung der Neutralität gegen das eigene Establishment von zentraler Bedeutung, das - wie schon zwei Mal im vergangenen Jahrhundert - wieder bei einer ganz großen Macht mitmarschieren möchte.

Anmerkungen

1 Centrum für Angewandte Politikforschung, Europas Zukunft, München, Mai 2003.

2 European Defence Paper: A Proposalfor A White Paper, Institute for Security Studies, Paris, Mai 2004.

3 Alle Zitate von Erich Reiterstammen aus: Volksblatt 21.1.2006, News 6/2006

4 Zur Zeit für Europa, Beilage Nr. 1/2006

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund
Gerald Oberansmayr lebt und arbeitet in Linz/Österreich. Er ist Aktivist der Werkstatt Frieden & Solidarität, Redakteur der antimilitaristischen Zeitschrift „guernica“ und Autor des Buches „Auf dem Weg zur Supermacht – Die Militarisierung der Europäischen Union“ (Promedia, 2005).