beschlossen auf der Strategie- und Aktionskonferenz der Friedensbewegung 28./29. November 1987

Aufruf zur Diskussion

1. Wo stehen wir heute?
Nach der Erfahrung von über 40 Jahren ununterbrochener Aufrüstung ist das Abkommen von UdSSR und USA über die Mittelstreckenraketen; mit dem zwei Kategorien von Atomwaffen beseitigt werden sollen, ein politischer Erfolg. Wenn dieser Vertrag ratifiziert wird, werden mit den Pershing II und Cruise Missiles Systeme beseitigt, denen die NATO-zentrale bündnispolitische und militärstrategische Bedeutung beigemessen hat.

Dies ist in einem politischen Klima möglich geworden, das die Friedensbewegungen bei uns und weltweit geschaffen haben. Gerade die Friedensbewegung in der Bundesrepublik hat durch ihre Arbeit den "sicherheitspolitischen Konsens" brüchig gemacht, die Abschreckungspolitik grundsätzlich infrage gestellt und Mehrheiten für atomare Abrüstung geschaffen.

Die Friedensbewegung begrüßt die bevorstehende Unterzeichnung des Vertrages. Wir drängen auf eine schnelle Ratifizierung und den baldigen Beginn der Raketenverschrottung. Wir wollen, daß die Raketenstellungen abgebaut und die Gelände wieder zivil genutzt werden.

Zum Zustandekommen dieses Abkommens hat die veränderte sowjetische Außen- und Sicherheitspolitik beigetragen, die auf "neuem Denken" beruht. Die UdSSR hat bisherige Positionen aufgegeben, und war zu weitreichendem Entgegenkommen bereit, um diese Vereinbarung zu ermöglichen.

In den USA spielen sehr verschiedene Motive für die Zustimmung zum Raketenvertrag eine Rolle: der politische Druck auch der US-amerikanischen Friedensbewegung, die wachsende Erkenntnis, daß nicht alle Rüstungsprogramme (SDI, atomare und konventionelle Aufrüstung) gleichzeitig politisch und ökonomisch verwirklicht werden können, der Einfluß des "sowjetischen Beispiels" auf die öffentliche Meinung, und nicht zuletzt militärstrategische Neuorientierungen auch im Verhältnis zu Westeuropa.

In der Bundesrepublik konnte sich die Regierung mit ihrer "Nachrüstungs“-Politik nicht durchsetzen, obwohl sie bis zuletzt versucht hat, das Abkommen zu verhindern. Sie gab als letzte der NATO-Regierungen den Weg für einen Vertrag frei, nachdem sie noch die Pershing IA als "Drittstaatensystem" zum Hindernis machen wollte. Ihr Konzept, Europas Schicksal atomar mit dem der USA zu verkoppeln, ist gescheitert - auch an der Friedensbewegung, die sie mit dem Stationierungsbeschluß 1983 in die Knie zwingen wollte.

Viele Menschen sind jetzt erleichtert. Aber wir können nicht übersehen: mit dem Raketenabkommen wird nur ein Teil der in Europa stationierten Atomwaffen beseitigt. Es werden nur landgestützte Systeme abgebaut. Tausende von luft- und seegestürzten, taktischen sowie britische und französische Atomwaffen bedrohen uns weiter.

Bundesregierung und NATO-Staaten halten unverändert an der Politik der Abschreckung fest und planen, das Abkommen durch Ersatzmaßnahmen zu unterlaufen, mit:

  • see- und luftgestützten Atomwaffen als Ersatz für die abgezogenen Pershings und Cruise Missiles,
  • modernisierten Kurzstreckenraketen,
  • verstärkter konventioneller Aufrüstung,
  • einer strategischen Aufwertung der französischen und britischen Atomwaffen und deren Modernisierung,
  • Vorstößen zur Stationierung französischer Atomwaffen auf dem Boden der Bundesrepublik.

Der Vertrag über die Mittelstreckenraketen ist nur dann ein abrüstungspolitischer Erfolg, wenn er kein isolierter Schritt bleibt, sondern zum Ausgangspunkt einer Abrüstungsdynamik wird. Dabei vertrauen wir nicht auf das Handeln. der Regierungen, sondern auf unsere eigene Kraft. Die Friedensbewegung muß weitere Abrüstungsschritte mit ihren Aktionen und ihrer Überzeugungsarbeit durchsetzen!

  1. Konkrete Utopien für eine neue Politik

In den letzten Jahren hat die Friedensbewegung konkrete Utopien für eine neue Politik entwickelt, eine Friedenspolitik, die

  • atomare, chemische und konventionelle Abrüstung verwirklicht, auf Weltraumrüstung verzichtet und die Gesellschaften entmilitarisiert,
  • Vertrauen zwischen den Blöcken schafft und Dialog und Zusammenarbeit fördert,
  • die gegenseitigen Bedrohungsvorstellungen abbaut und Entspannung vertieft, auch militärisch,
  • eine europäische Friedensordnung entwickelt, die Großmachtinteressen und Militarismus überwindet,
  • eine gerechte Weltwirtschaftsordnung schafft und das Selbstbestimmungsrecht aller Völker, auch der in der "3. Welt" anerkennt,
  • unsere Umwelt erhält und auf atomare Energieversorgung verzichtet,
  • die Gleichberechtigung von Mann und Frau durchsetzt und die alltägliche Gewalt gegen Frauen ausschließt,
  • die Verwirklichung der Menschenrechte garantiert.

Geist, Logik und Politik der Abschreckung und Abgrenzung ebenso wie das daraus entstehende Streben nach militärischer Überlegenheit lehnen wir ab. Frieden und Sicherheit können nicht errüstet werden. Einen Atomkrieg kann niemand gewinnen, er wird alles menschliche Leben auslöschen. In Europa kann bereits ein konventioneller Krieg alles zerstören.

Unfrieden und Rüstung in Europa und zwischen·den Weltmächten sind auch Ursachen für Krieg und Elend in der sogenannten 3. Welt. Die Industriestaaten auch in Europa sind mitverantwortlich dafür, daß die Kriege beendet und die Menschen dort Überlebenschancen und politisch eigenverantwortliche Gestaltungsmöglichkeiten haben.

Frieden und Sicherheit als politische Probleme lassen sich nur mit politischen Mitteln lösen. Die globalen Gefährdungen der Menschheit erfordern ein grundlegendes Umdenken. Wir brauchen das gemeinsame Handeln der Friedens- und anderer sozialer Bewegungen.

3. Entweder - oder!

Die Bundesregierung will ihre Aufrüstungspolitik weiter betreiben: Die Friedensbewegung dagegen muß die Auseinandersetzung um solche Schritte suchen, mit denen eine Abrüstungsdynamik in Gang gebracht werden kann. In den nächsten Jahren geht es um entscheidende Alternativen:

  1. Schaffen wir eine Bundesrepublik ohne atomare, biologische und chemische Waffen und tragen zu einem atomwaffenfreien Europa und einer Welt ohne atomare Bedrohung bei, oder bleibt unser Land weiter atomare Abschußrampe in einem Europa der Konfrontation?
  2. Verringern wir Rüstungsausgaben, Waffenarsenale und Truppenstärken und setzen so Mittel frei für soziale und ökologische Aufgaben und für die "3. Welt", oder führt uns die weitere Rüstungspolitik zu dramatischen inneren und äußeren Zuspitzungen?
  3. Schaffen wir ein Europa des Friedens, der Völkerfreundschaft und politischer Friedenssicherung, oder bringt uns die Militarisierung Westeuropas und insbesondere die deutsch-französische Rüstungskooperation eine Vertiefung der Blockbildung und damit verbundene neue Konfrontationen?
  4. Verwirklichen wir mit den Völkern der "3. Welt" Frieden, gerechte Wirtschaftsbeziehungen, selbstbestimmte Entwicklung und gleichberechtigte Zusammenarbeit, oder wird Unterdrückung weiter militärisch abgesichert, mit Rüstung aus der Bundesrepublik Krieg exportiert und die ungerechte Weltwirtschaftsordnung aufrechterhalten.

4. Zukünftige Schwerpunkte und Aktionen

Für unsere weitere Arbeit auf dem Weg zu einem Westeuropa, das eine friedensfähige, partnerschaftliche und gerechte Politik gegenüber Ost und Süd betreibt, stellen sich einige Fragen:

  • Welche Friedensordnung wollen wir anstelle des Abschreckungs- und Blocksystems?
  • Wie stellen wir uns den. Prozeß einer umfassenden Denuklearisierung und Entmilitarisierung Europas vor? Welche Bedeutung haben dabei Konzepte defensiver und/oder sozialer Verteidigung?
  • Was bedeuten die Veränderungen in der Politik der Sowjetunion für unsere Arbeit?
  • Was bedeuten die Veränderungen der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Interessen an Auf- und Abrüstung im Westen für unsere Arbeit?
  • Was können wir für den Abbau von Feindbildern und Bedrohungsängsten (durch Friedenserziehung, den Ausbau der Friedensforschung usw.) sowie für die Festigung von Freundschaft über Staats- und Landesgrenzen hinweg tun?
  • Wie können wir die Veränderungen der politischen Kultur. und der Demokratisierung von Friedens- und Sicherheitspolitik weiterentwickeln und ausbauen?
  • Wie können wir wieder mehr Menschen davon überzeugen, daß sie selber für Abrüstung politisch handeln müssen?
  • Wie können wir erreichen, daß mehr Menschen die Beteiligung am Kriegsdienst und anderen Formen der Kriegsvorbereitung verweigern, ein Militärdienst für Frauen verhindert wird und alle "Zivilschutz"- Vorhaben gestoppt werden.

Wir müssen über neue politische Zuspitzungen beraten und entscheiden, mit welchen gemeinsamen, überregionalen Schwerpunkten, Kampagnen und Aktionen wir unsere Ziele durchsetzen können. Von verschiedenen Organisationen liegen dazu Vorschläge vor, die nicht alternativ stehen müssen, sondern sich zum Teil ergänzen:

  1. Eine Kampagne mit drei Schwerpunkten:
  • Für eine atom- und chemiewaffenfreie Bundesrepublik und für die Aufnahme des Atomwaffenverzichts ins Grundgesetz,
  • für eine drastische Verringerung der Rüstungsausgaben, der konventionellen Bewaffnungen und Truppenstärken (anknüpfend an der Arbeit lokaler Initiativen z.B. zu·neuen Militäranlagen, Tieffluglärm, Konversionsplänen für die Rüstungsproduktion)
  • für Völkerfreundschaft und gegen eine Militarisierung Westeuropas (z.B. mit Initiativen gegen die deutsch-französische Militärzusammenarbeit und in Zusammenarbeit der Friedensbewegungen; gegen WEU und EG-Militarisierung).
  1. Eine eigenständige Kampagne für die Aufnahme des Atomwaffenverzichts ins Grundgesetz, die ausdrücklich alle Formen einer Mitverfügung über Atomwaffen ausschließt.
  2. Eine selbstorganisierte Volksabstimmung mit den Forderungen:
  • Entfernung aller atomaren und chemischen Waffen aus der Bundesrepublik
  • Stopp der Beschaffung neuer Großwaffensysteme für die Bundeswehr
  • 50%ige Reduzierung der Waffen und Streitkräfte in Mitteleuropa
  • Schaffung von Zonen ohne Massenvernichtungswaffen.
  1. Eine Kampagne für den Abbau von Feindbildern, für Dialog und Verständigung mit gemeinsamen Ost-West-Friedensprojekten von örtlichen Bürgerinitiativen vergleichbar dem blockübergreifenden Olof-Palme-Friedensmarsch vom September 1987 (z.B. anknüpfend an Städtepartnerschaften). Dazu gehört die Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion, wie sie im Mittelpunkt der christlichen Friedenswochen 1987 stand. Unter anderem können gemeinsame Vorstellungen für eine europäische Friedensordnung und für atomwaffenfreie Zonen erarbeitet werden. Aus Anlaß .des 50. Jahrestages der Reichspogromnacht am 9. Nov. 1988, des 40. Jahrestages der Gründung der Bundesrepublik am 8. Mai 1989 und des 50. Jahrestages des Beginns des 2. Weltkrieg am 1. Sept. 1989 können wir Aktionen für den Aufbau einer europäischen Friedensgemeinschaft und für Feindbildabbau und Versöhnung nach innen und außen durchführen. Als Antwort auf den deutsch-französischen Gipfel im Januar 1988 und im Zusammenhang mit dem neu gegründeten zweiseitigen "Sicherheitsrat'' sollen Aktionen durchgeführt werden mit dem Ziel, eine zivile Gegenströmung zum beabsichtigten Aufbau einer eigenständigen Militärmacht Westeuropa zu entwickeln.
  1. Kampagnen für die Beendigung von Kriegen in der "3. Welt", für praktische Solidarität mit den Befreiungssbestrebungen der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas.
  2. Eine Kampagne zur Konferenz des Weltwährungsfonds und der Weltbank im Herbst 1988 in West-Berlin, mit Veranstaltungen und Aktionen gegen Verschuldungskrise, wirtschaftliche Ausbeutung und Abhängigkeit; für die Entmilitarisierung der Nord-Süd-Beziehungen und eine gerechte Weltwirtschaftsordnung.

Wir müssen entscheiden, mit welchen Aktionen wir unsere inhaltlichen Schwerpunktsetzungen und unsere neue Kampagne (im Herbst 1988?) öffentlich und deutlich machen. Dabei müssen auch neue Formen in Betracht gezogen werden. Überlegt wird zum Beispiel:

  • eine Großveranstaltung mit Diskussionsforen, Kultur, Vorstellung örtlicher und berufsspezifischer Arbeit, mit internationaler Beteiligung, Friedens und Zukunftswerkstätten, Begegnungen.
  • ein integriertes Konzept mit drei Aktionen an je einem Standort von Pershing II bzw. Cruise Missiles, einem Ort der Verwirklichung der neuen Kriegführungsoptionen (z.B. NATOFührungsbunker Linnich) und einem Ort konventioneller Aufrüstung (z.B. MBB in München).
  • eine Ausweitung von Aktionen zivilen Ungehorsams.

Ziel unserer Arbeit ist, daß die Bundesrepublik eigene Abrüstungsschritte geht. Auf einer Aktionskonferenz (inzwischen terminiert auf den 7./8. Mai '88) werden wir entscheiden, mit welchen inhaltlichen Zuspitzungen, längerfristigen Kampagnen und Aktionen wir dieses Ziel erreichen können.

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