Wir füllten öffentliche Plätze und dann die Arrestzellen und Gefängnisse

Aus der russischen Antikriegsbewegung

von Renate Wanie

Mit dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar 2022 wurden in Russland landesweit mehr als 2.000 Menschen von der Polizei festgenommen. Noch bis Ende März wurden die meisten Berichte über Antikriegsproteste in Russland verfasst. Danach wurde es stiller. Mit der Mobilmachung am 21. September 2022 kam es nach monatelanger Zurückhaltung wieder zu Protesten im ganzen Land. Wie bereits 2014 spricht die russische Regierung auch 2022 von einer „militärischen Spezialoperation“, offensichtlich eine Desinformationskampagne. Wer das Wort „Krieg" verwendet, kann bis zu 15 Jahre ins Gefängnis kommen. Dennoch gab es der russischen Nichtregierungsorganisation „OVD-Info“ zufolge in allen Großstädten Proteste, in Moskau und St. Petersburg waren es Tausende. (1)  

Nachfolgend werden Stimmen aus der Antikriegsbewegung in Russland vorgetragen, sie berichten von Aktionen und Protesten aus der Antikriegsbewegung sowie über die Gewalt der russischen Sicherheitskräfte. Die Berichte sind vorwiegend einer Extrabroschüre der monatlich erscheinenden linken Zeitung „Analyse und Kritik“ entnommen sowie dem Telegramkanal. (2)

Ziele des Protests
Am 22. September informierte das oppositionelle Studierendenmagazin „DOXA“ in einem Newsletter über die Ziele des Protestes sowie über Aktivitäten, wie z.B. über brennende Einberufungsbüros und Polizeistationen, befreite Gefangene und von Studierenden besetzte Universitäten. Einer der Redakteure stand ein Jahr lang unter Hausarrest, da er im Winter 2021 ein Video zur Unterstützung protestierender Student*innen und Schulkinder aufgenommen hatte. Er schreibt: „Der 24. Februar lag in meinem zehnten Monat unter Arrest. Als Panik ausbrach, begannen alle schnellstmöglich das Land zu verlassen. Medien wurden binnen eines Tages geschlossen. Ich hatte keinen Reisepass (er wurde bei der Durchsuchung beschlagnahmt) und eine elektronische Fußfessel hing an mir.“ (3) In den ersten Wochen nach der Invasion dachte der Autor in „DOXA“, dass er gemeinsam mit den anderen Studierenden noch etwas ändern und diese sinnlose Invasion stoppen könnte. Es wurden Informationen über Folter auf Polizeistationen gesammelt, Tipps gegeben, wie Festgenommenen bei Kundgebungen geholfen werden könnte sowie Mittel für Bußgelder gesammelt und bezahlt. Ziel dieser Initiative war, das Rückgrat des Antikriegsprotestes zu sein und ihn mit Informationen zu unterstützen. Doch der Krieg sei eben nicht vorbei, schreibt DOXA, die Aktivist*innen hätten sich geirrt – aber immerhin brauchten die Sicherheitskräfte zwei Wochen, um den Antikriegsprotest auf den russischen Straßen zu zerschlagen.

Konzept der radikalen Gewaltlosigkeit gegen den Krieg?
Armen Aramyan, Redakteur und Autor von DOXA, fragt im Telegram-Text, ob es ein Fehler sei, wie die Bewegung über Protest denke und schaut zurück auf die 1990er und 2000er Jahre in Russland: Die führenden politischen Bewegungen stützten sich auf ein radikal gewaltfreies Konzept des Protests: „Man darf kein Gebäude besetzen, …sie nicht in Brand setzen, …nicht in Konfrontation mit der Polizei und der Armee gehen, jede Gewalt ist Extremismus.“  Rückblickend konstatiert Aramyan, Protest sei demnach kein Kampf, sondern eine Art Meinungsäußerung - „lasst uns auf die Straße gehen und zeigen, wie viele wir sind – und dann freundlich auseinander gehen“. Aktuell hinterfragt er, „aber warum eine Meinung äußern, wenn sie niemand hören will?“ Und „warum sollte man sich an Kundgebungen beteiligen, wenn sie nichts ändern werden?“(4) Kritisch kommentiert er, dass diese Fragen unbeantwortet blieben. Auch am 24. Februar 2022, als Putin allen Ukrainer*innen den offenen Krieg erklärt habe, habe die Bewegung nicht beschlossen, dass dies Grund genug sei, Putin selbst und all denen, die für sein Regime arbeiten, den Krieg zu erklären und dem üblichen Konzept der radikalen Gewaltlosigkeit zu folgen. Selbstkritisch stellt er im September ironisch fest: „Wir füllten Plätze mit unseren Körpern und dann die Gefangenentransporter, Arrestzellen, Isolationszellen, Gerichte und Gefängnisse.“ (ebd.)

Mit einem Generalstreik gegen den Krieg?
Doch dass sich die Menschen in den Großstädten Russlands nach der Teilmobilmachung im September 2022 weder von den massenhaften Repressionen, noch von den verschiedenen Androhungen von Strafverfolgung, die von Behörden vor Kundgebungen ausgesprochen wurden, einschüchtern ließen, hebt die „Sozialistische Initiative“ in Telegram hervor. Und das, obwohl die Polizeigewalt nicht abgenommen habe: „Knüppel, Elektroschocker, Folter in den Gefangenentransporten – wie üblich.“ (5) Eine neue „Erfindung“ des Regimes sei die Zustellung von Einberufungen direkt auf den Polizeistationen. Stark angestiegen seien die Anfragen in den Suchmaschinen, z.B. zum Thema „Wie bricht man sich einen Arm?“, Flugtickets, die bereits Tage im Voraus ausverkauft waren oder auch Warteschlangen an den Grenzen zu den Nachbarländern. Nach Berichten der Kampagne „#Object-WarCampaign“ von „Connection“ e.V. schafften es russische Rekrutierungsverweigerer, u.a. nach Kasachstan, Georgien oder Armenien zu fliehen. (6)
Vorsichtig kritisch angemerkt wird im Telegramtext der „Sozialistischen Alternative“, dass versucht werde, eher eine individuelle als eine kollektive Lösung zu finden. Doch angesichts der von der Front kommenden Leichensäcke sowie die durch den Krieg und die Sanktionen verursachte Zerrüttung der Wirtschaft, die sinkenden Löhne werde die Antikriegsbewegung wachsen, so die Einschätzung. Und diejenigen, die bereits zu Schlussfolgerungen gegen den Krieg gekommen sind, müssten sich organisieren. Der Appell lautet: „Der wichtigste Schlag gegen das Regime, der dazu in der Lage ist, den Krieg zu stoppen und die Diktatur zu beenden“, könne nur von Massen (Menschen am Arbeitsplatz, an den Universitäten und Schulen) initiiert und durch einen organisierten Generalstreik ausgeführt werden! (7) So die aktionsorientierte Perspektive der Telegram-Autor*innen der „Sozialistischen Initiative" für die Antikriegsbewegung.

Ethnische Säuberungen für eine radikale Mobilmachung?
Die Stiftung Freies Burjatien (B. liegt an der Grenze zur Mongolei) berichtet von Massenvorladungen an Männer unterschiedlichen Alters, körperlicher Verfassung und Familienstandes in ganz Burjatien. Der Telegramkanal des Feministischen Antikriegswiderstands führt das Beispiel eines Vaters von fünf minderjährigen Kindern an, der eingezogen wurde, oder anderen Männern, die nachts abgezogen oder scheinbar wahllos zusammengetrieben wurden. Studierende würden von der Bundespolizei direkt aus der Vorlesung zum Einberufungsbüro gebracht. Besonders aus abgelegenen Regionen, wie z. B. im Ural, aus der Wolga-Region und im Kaukasus werden massenhaft Männer rekrutiert. Aktivist*innen beklagen, dass Angehörige ethnischer Minderheiten besonders stark von der Mobilmachung betroffen sind und sprechen deshalb sogar von „ethnischen Säuberungen“ im Südosten Russlands. (8)

Weiter gegen Krieg und Mobilmachung!
Am Abend der Mobilmachung, dem 21. September 2022, kündigte eine weitere Bewegung, die Jugendbewegung Wesna (Frühling), per Telegram eine Kampagne gegen die Mobilmachung an und dankte den Aktivist*innen, die zur Kundgebung gekommen seien, für ihren Mut und die Bereitschaft zu kämpfen. „Ihr seid Held*innen und wahre Patriot*innen  – im Gegensatz zu Putin, Schoigu, der Regierung, den Abgeordneten und Propagandist*innen. (…) Der Kampf um Frieden und Freiheit wird nicht einfach sein. Aber wir müssen ihn führen.“ (9) Mehrere Ziele werden genannt: Die Gesellschaft müsse gegen die Mobilmachung vereint werden, denn der Krieg gehe jetzt alle an. Der Protest auf der Straße müsse weitergehen, gegen die Diktatur, die das Land zerstöre - im Internet wie auch in persönlichen Gesprächen. Das müsse regelmäßig getan werden. Den von der Mobilmachung bedrohten Personen müsse geholfen werden, nicht in den Krieg zu ziehen, z. B. mit der Unterstützung von Anwält*innen.
Die Antikriegsbewegung in Russland braucht unsere Solidarität. An den konkreten Beispielen lässt sich aufzeigen, wie riskant und folgenreich es ist, unter totalitären Bedingungen Widerstand gegen Krieg zu leisten.

Anmerkungen
1 OVD-Info (seit 2011) ist eine unabhängige, russische Nichtregierungsorganisation für Menschenrechte (Freiheit der Sprache, Versammlungsfreiheit) und gegen politische Verfolgung in Russland. Auf der Website werden politisch motivierte Verhaftungen dokumentiert.
2 Analyse und Kritik, Sonderbeilage Winter 2022/23 (Hrsg. Verein für politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.): Ukraine-Krieg. Russlands Invasion und die Debatte um Imperialismus und Internationalismus
3Telegramkanal des DOXA-Journals: t.me/doxajournal
4 ebd.
5 Telegramkanal der Sozialistischen Initiative: t.me/socialistnews
6 Friedrich, Rudi: Mobil gegen Mobilmachung. In: Friedensforum 1/2023, S. 13
7 Telegramkanal der Sozialistischen Initiative
8 Telegramkanal des Feministischen Antikriegswiderstands: t.me/femagainstwar
Alle übersetzte Erklärungen aus dem Telegramkanal: von Christoph Wälz
9 https://www.akweb.de/bewegung/teil-mobilmachung-antikriegsbewegung-russland-proteste/
   (https://t.me/vesna_democrat/3788)

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