Prävention und Krisenmanagement

Beispiel Baltikum: Kluge Politik ermöglichen

von Hanne-Margret Birckenbach

Der „Dauerdialog“ der KSZE schien lange eine unergiebige Veranstaltung ohne praktikable Ergebnisse. Die Vorstellung, dass über die internationale Ebene fremde Mächte auf die inneren Angelegenheiten eines Landes Einfluss nehmen könnten, galt als bedrohlich. Das ist heute nicht anders. Dennoch gelang es den Außenministern der KSZE-Staaten Anfang der 90er Jahre, Präventive Diplomatie, Konfliktverhütung und Krisenmanagement als wesentliche Aufgaben zu formulieren und diese in der OSZE institutionell zu verankern. Das Amt des Hochkommissar zu nationalen Minderheiten und die OSZE-Langzeitmissionen bilden zusammen mit den zentralen OSZE-Institutionen in Wien ein für die internationale Zusammenarbeit einzigartiges Kommunikationsdreieck, um auf ethnopolitische Spannungen in Europa konstruktiv zu reagieren.

Langzeitmissionen waren und sind seitdem nahezu in ganz Osteuropa – niemals aber in Westeuropa – tätig. 2016 arbeiten sie in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Serbien, Mazedonien, Moldau, Armenien, Turkmenistan, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan, Usbekistan sowie in der Ukraine und an der russischen Grenze zur Ukraine. Während die Langzeitmissionen durch befristete Mandate reglementiert werden, denen alle Mitgliedstaaten zustimmen  müssen, ist der Hohe Kommissar  zu Nationalen Minderheiten (HCNM) allein auf das Einverständnis des betreffenenden Staates angewiesen, in dem er selbst ein Minderheitenproblem erkennt. Die etwa zehn Jahre andauernden OSZE-Aktivitäten in Estland und Lettland gelten bis heute als Musterbeispiele für die Möglichkeiten präventiver Diplomatie.

Die Konfliktkonstellation in Estland und Lettland
Estland und Lettland waren 1918 aus dem russischen Reich ausgeschieden und  unabhängige Staaten, bis sie 1939 von sowjetischer Truppen und 1941 von deutschen Truppen besetzt wurden. 1944 wurden sie von sowjetischen Truppen rückerobert und annektiert und blieben bis 1991 Republiken der Sowjetunion. In der sowjetischen Zeit wuchs der Anteil der russisch sprechenden Bevölkerung auf insgesamt etwa 40 Prozent an. An diesen entzündete sich der Konflikt, als die Regierungen Estlands und Lettlands 1991 entschieden, den Personen, die als BürgerInnen der Sowjetunion in Estland und Lettland angesiedelt worden waren, sowie deren Nachkommen als AusländerInnen, Staatenlose oder NichtstaatsbürgerInnen zu behandeln und Estnisch bzw. Lettisch als einzige Staatssprachen festzulegen. 

Mehrere miteinander verwobene Themen waren und sind unter den drei ungleichen Kernparteien strittig. Aus der Sicht Estlands und Lettlands erfolgte die Ausgrenzung der Minderheit im legitimen Interesse nationaler Sicherheit vor Russland. Aus der Sicht der russischsprachigen Minderheit handelte es sich um einen diskriminierenden Eingriff in ihre Lebensgrundlagen. Aus russischer Sicht handelt es sich um den Bruch einer vertraglichen Abmachung, die zusicherte, allen EinwohnerInnen das Recht zu gewähren, sich entweder für die Staatsbürgerschaft des neuen baltischen Staates zu entscheiden oder – bis zum Jahr 2001 –  für die russische Staatsbürgerschaft zu optieren. Russland erkannte ferner eine Verletzung der Menschenrechte von BürgerInnen, für die es eine Schutzfunktion beansprucht.

Diese Konstellation setzte die westeuropäischen Staaten unter Zugzwang. Die USA, Schweden und Deutschland standen unter starkem Druck der exilbaltischen Lobby. Viele Staaten fürchteten, ein Engagement für Minderheitenrechte könnten Separationstendenzen im eigenen Land beflügeln und fast alle fürchteten einen Kontrollverlust, wenn Menschenrechtsfragen politisiert würden. Kein Staat hatte ein Interesse, sich mit Russland anzulegen, alle waren an einer friedlichen Transformation in Osteuropa interessiert.

Die Ermöglichung kluger Politik
In diesem Interessengemenge ermöglichten es die internationalen Organisationen allen Parteien, sich vergleichsweise klug zu verhalten, und die OSZE spielte dabei eine wesentliche Rolle, in dem sie den Druck auf die Staaten kanalisierte. Mit ihrer Hilfe vermieden westliche Staaten es, ihrerseits als Schutzmacht von Estland und Lettland aufzutreten, sich auf einen Konfrontationskurs mit Russland zu begeben, oder / und Partei für die Anliegen der russischsprachigen Minderheit zu ergreifen. Russland ermöglichte sie, seine Position normkonform zu vertreten. Es prangerte zwar die Ausgrenzung der russischsprachigen Bevölkerung an und verknüpfte das Thema mit der Frage des Abzugs seiner Truppen – verhielt sich aber konstruktiv, als es die OSZE aufforderte, tätig zu werden. Estland und Lettland sahen darin zwar eine Schädigung ihres Ansehens. Sie wiesen die Einmischung von internationalen Organisationen jedoch nicht generell zurück, weil sie deren Unterstützung suchten, um ihre Staatlichkeit zu festigen. Zwar brachten alle Beteiligten unterschiedliche Interessen ein, überließen es aber den internationalen Organisationen, mit einem breiten Ansatz der „präventiven Diplomatie“ für Ausgleich zu sorgen.

An der Konflikteinhegung war eine Vielfalt von Organisationen beteiligt. Alle verfolgten arbeitsteilig jeweils eigene Ansätze. Alle stützten sich auf ein breites Spektrum von dialogorientierten Aktivitäten: Fact-Finding, Besuche, Briefe, Missionen, Beratungen, Konferenzen, Runde Tische und kleine gesellschaftspolitische Projekte. Die Fäden aber liefen bei der OSZE zusammen.

Die Langzeitmissionen in Tallinn und Riga wurden alle sechs Monate neu mandatiert, Stabilität, Dialog und Verständigung zu fördern, und agierten vor Ort als zentrale Anlaufstellen. Sie standen in ständigem Austausch mit der estnischen bzw. lettischen Regierung, mit den Botschaften, mit anderen internationalen Organisationen sowie zivilgesellschaftlichen Kräften vor Ort. Sie pflegten zugleich enge Verbindungen nach außen zum Hochkommissar für Nationale Minderheiten (HCNM) sowie zu den Wiener OSZE-Institutionen, von wo aus die Informationen die interessierten europäischen Hauptstädte erreichten. Als „Sicherheitsorganisation“ beanspruchte die OSZE erfolgreich, das Heft in der Hand zu halten und mit ihren Institutionen eine koordinierende Funktion wahrzunehmen, die Interessen aller Seiten zu bündeln, miteinander zu verflechten, für ein Minimum an Transparenz und Kommunikation unter den Staaten zu sorgen sowie Aufgeregtheit in vergleichsweise sachliche Argumentationen zu überführen. So überzeugte die OSZE die estnische Regierung, ein von ihr für rechtswidrig gehaltenes Referendum über eine territoriale Autonomie in den russisch-sprachigen Städten Narva und Sillamäe im Nordosten Estlands nicht zu untersagen, sondern von internationalen BeobachterInnen begleiten zu lassen, den DemonstrantInnen die Möglichkeit zu gewähren, ihre Anliegen gewaltfrei auszudrücken und das Abstimmungsergebnis als Meinungsäußerung zur Kenntnis zu nehmen.

Was wurde erreicht?
Die OSZE konzentrierte sich darauf, Spannungen zu entschärfen, nicht darauf, Lösungen zu finden. Das Konfliktverhalten aller Akteure konnte unterhalb der Schwelle direkter Gewalt gehalten werden. Befürchtete Ausweisungen oder gar Vertreibungen sowie gewaltsame Reaktionen seitens der betroffenen Minderheiten und Russlands konnten vermieden werden. Allerdings eskalierte der ungelöste Konflikt in Estland nach Beendigung der Präventionsbemühungen 2007 für kurze Zeit auf die Stufe einer gewalttätigen Krise.

Alle Akteure konnten motiviert werden, Kompromisse einzugehen. Lettland und Estland akzeptierten im Grundsatz, dass NichtstaatsbürgerInnen die Möglichkeit gegeben werden müsse, StaatsbürgerInnen zu werden. Direkten Einfluss hatte der Europarat in Zusammenarbeit mit der OSZE auf das estnische Ausländer- und das lettische Staatsbürgerschaftsgesetz. Auch NichtstaatsbürgerInnen haben heute Aufenthaltsrechte, Reisemöglichkeiten und Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis und Sozialleistungen. Der Weg der Einbürgerung wurde geöffnet, die Anforderungen an die Kenntnisse von Sprache und Geschichte für alte und behinderte Menschen herabgesetzt und russischsprachigen EinwohnerInnen steht vor Gericht ein/e DolmetscherIn zu. Auch NichtsstaatsbürgerInnen genießen Visafreiheit in die Europäische Union – sehen sich allerdings weiterhin diskriminiert.

Viele Faktoren haben diese relativen Erfolge begünstigt. Internationale Organisationen hatten sich mit der Region befasst, schon bevor der Konflikt entstand. Ihr Personal bildete eine Expertengemeinschaft. In Estland und Lettland hatte sich während der Unabhängigkeitsbewegung eine Kultur der Gewaltlosigkeit herausgebildet. Gleichzeitig fanden die internationalen Organisationen eine politisch bis dahin unbekannte Wertschätzung und praktische Unterstützung. Schließlich waren sie in der Lage, ihr Engagement für alle beteiligten Akteure in irgendeiner Weise nützlich zu machen.

Mit zunehmender Einbindung in die NATO und EU-Strukturen erlosch allerdings im Westen das Interesse daran, einen Ausgleich unter allen Konfliktparteien zu finden. Estland und Lettland, die diesen Ansatz als diskriminierend verstanden, drängten darauf, die Aktivitäten internationaler Prävention in ihren Ländern zu beenden. Sie  unterzeichneten zwar noch die Europäische Rahmenkonvention zum Schutz regionaler und nationaler Minderheiten, nicht aber die Europäische Sprachencharta. Das Engagement in präventiver Diplomatie im engeren Sinne wurde abgebrochen. Die ursprünglichen Konfliktthemen bilden nach wie vor ständige Streitpunkte innerhalb beider Länder und zwischen ihnen und Russland. Die wichtigste Erfolgsbedingung der OSZE ist zerstört. Die USA und Russland waren in den 1990er Jahren kooperationswillig. An dieser Grundbedingung entscheidet sich bis heute, ob Konfliktprävention im Rahmen der  OSZE gelingen kann.

Literatur:
http://www.crisis-prevention.info/beispiele-gelungener-kriegspraevention...

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