Betrifft: „Innere Sicherheit“

Die Debatte um die "Innere Sicherheit" ist Wahlkampfthema und macht dem Medienrenner „Asylrecht" den ersten Rang streitig. Die beiden großen Parteien CDU und SPD überbieten sich mit Rezepturen, wie der wachsenden Alltagskriminalität, der Gewaltkriminalität und insbesondere der sog. Organisierten Kriminalität begegnet werden kann. Die Debatte wird parteistrategisch und populistisch geführt. Sie wird von der CDU auf die Frage "wie hältst Du's mit dem Großen Lauschangriff reduziert; aus SPD-Sicht wird mit der Frage "wie hältst Du's mit der Geldwäsche" gekontert.

Das Trommelfeuer aus Bonn zeigt Wirkung. Eine Versachlichung dieser Debatte bzw. eine offene Diskussion über das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit und die wahren Ursachen von zunehmenden Normverletzungen scheint heute angesichts des vergifteten Klimas schon ausgeschlossen. Wer, wie Bürgerrechtler oder die immer schwächer werdenden Stimmen in den Medien, begründeten Widerspruch anmeldet und bei Realisierung dieser Forderungen auf die damit verbundenen Gefahren für Rechtsstaat und Grundrechte hinweist oder wegen der absehbaren .Ineffektivität der von der "Großen Koalition" hinausposaunten Postulate vor unerfüllbaren Hoffnungen warnt, wird im besten Falle als naiv, ansonsten als Helfershelfer von Kriminellen denunziert.

Der Mythos Sicherheit

Es stimmt, daß die Kriminalitätsbelastung ausweislich der polizeilichen Kriminalstatistik im Wachsen begriffen ist (1982: 3,8 Mio. Straftaten; 1992: 6,3 Mio.): Auch die Angst der Bürger vor ihr.

Die Bürger fühlen sich bedroht. Dieses Bedrohungsgefühl wird tagtäglich mediengerecht durch neue Horrormeldungen über "Jugogangs, Russenmafias etc." geschürt.

Subjektives Bedrohungsgefühl und tatsächliche Bedrohung sind jedoch zweierlei und fallen auseinander. Trotz aller Horrorszenarios rechtfertigen die Statistiken das verbreitete Bedrohungsgefühl nicht. Wird die Kriminalstatistik näher betrachtet, zeigt das Anwachsen von Kriminalität Schwerpunkte bei Eigentumsdelikten, dem Drogenhandel, der Steuer- und Wirtschaftskriminalität. Lediglich für die neuen Bundesländer ergibt sich eine starke Zunahme der Straffälligkeit. Für eine signifikante Bedrohung des einzelnen, etwa durch Gewaltdelikte oder Bedrohung der Öffentlichen Ordnung insgesamt, gibt die Kriminalstatistik nichts her.

Die aktuelle Debatte verkürzt "Innere Sicherheit" auf die Forderung nach Ausweitung polizeilicher und strafverfahrensrechtlicher Befugnisse. Sicherheitspolitiker reduzieren dabei das Gefühl von Unsicherheit der Bürger allein auf die Angst vor Kriminalität. Unsicherheit definiert sich jedoch vorwiegend subjektiv und für jeden anders. Der Verlust des Sicherheitsgefühls hat viele Ursachen; er hat mit dein Verlust von Milieus, Arbeitsplätzen, Lebensgewißheiten zu tun.

Der Begriff "Innere Sicherheit" hat eine obrigkeitsstaatliche Denkstruktur zum Paten und erweckt bei der Bevölkerung die Erwartung, der "starke" Staat könne unabhängig von den gesellschaftlichen Voraussetzungen jedem Bürger persönliche Sicherheit gewährleisten. So soll suggeriert werden, der starke Staat könne strukturelle Gesellschaftsprobleme lösen und kontrollieren.

Wer erinnert sich noch daran, daß dieser Begriff seine Feuertaufe in den ideologischen Begleitmanövern der ersten wirtschaftlichen Erschütterung Nachkriegsdeutschlands 1966/1967 erhalten hat, als das Wirtschaftswunderland Ludwig Erhards seine ersten Risse bekam? "Innere Sicherheit" wird heute, unter erheblich dramatischeren Vorzeichen, entmottet und kommt zu neuen Ehren. In Zeiten eskalierender ökonomischer und sozialer Krisenerscheinungen sind die Betroffenen verunsichert. Soziale Besitzstände werden durch Kahlschlag zurückgenommen. Traditionelle Autoritäts- und Wertestrukturen können auch nicht dagegen helfen, weil sie in einer neoliberalen Ellbogengesellschaft alle Verbindlichkeit verloren haben.

In Zeiten der Krise und der Verunsicherung, von der auch die "große" Politik nicht verschont bleibt und auf die sie mit Lähmung und politischer Ratlosigkeit reagiert, bedarf es neuer Feindbilder. Je weniger die konkreten Bedrohungslagen oder alte Feindbilder hierfür etwas hergeben, etwa die RAF oder die "kommunistische Bedrohung", desto mehr spielen "Asylanten", Fremde oder eben die anonyme "Organisierte Kriminalität" eine Rolle.

Dem verbreiteten Gefühl von Bedrohung durch Kriminalität und insbesondere durch "Organisierte Kriminalität" kann nicht allein aufklärerisch durch den Verweis auf die Fakten entgegengearbeitet werden.

Wirtschaftsdelikte sind nicht nur Ladendiebstähle und - als Volkssport und Kavaliersdelikt – Versicherungs- bzw. Steuerbetrügereien, an denen sich auch Bundesbürger, die sich selbst von Kriminalität bedroht fühlen, munter als Täter beteiligen. Waffen- und Müllverschiebereien, unerlaubter Handel mit spaltbarem Material, Subventionsbetrügereien, Steuerdelikte in großem Maßstab zeigen erst das wahre Ausmaß. des Problems auf, wo Gemeinschaftsinteressen zugunsten von Partikularinteressen verletzt werden. In diesem Zusammenhang sind Wirtschaftsverbrechen real sozialschädliche, menschenfeindliche und das ökologische System gefährdende und zerstörende Praktiken der Kapitalbeschaffung, Kapitalverteidigung und Kapitalverwertung.

Organisierte Kriminalität ist keine Schmuddelkriminalität, die ihren Platz außerhalb der sozialen Marktwirtschaft hat. Vielmehr entspricht sie dieser; sie ist Funktion einer freien Marktwirtschaft und einer Weltwirtschaftsordnung; in der Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen und Kapital herrscht.

Ebenso wie legale Unternehmen arbeitet auch das sog. Organisierte Verbrechen, etwa bei der Geldwäsche, mit den Instrumenten der Weltwirtschaft, ihrer Infrastruktur, ihren kommunikativen und juristischen Mitteln. Es hat sich international organisiert und ist mit der materiellen und der ideellen Infrastruktur der legalen Wirtschaft der Staaten und von überstaatlichen Organisationen verflochten und verursacht dabei konkrete Folgeschäden.

Lösungsansätze

  • "Kampf gegen Organisierte Kriminalität als einer Form von Wirtschaftskriminalität ist immer ein Kampf für Demokratie und die Erhaltung des Rechtsstaats. Dementsprechend haben alle Methoden und Verfahren zu ihrer Bekämpfung auszuscheiden, die einem rechtsstaatlichen Verfahren widersprechen und "Waffengleichheit" mit Methoden von Kriminellen anzustreben versuchen (V-Leute, verdeckte Ermittler).

Politiker von SPD und CDU wollen der Wirtschaftskriminalität das Handwerk legen und fordern hierfür ein besseres rechtliches Instrumentarium. Was ist von der Ernsthaftigkeit dieses Unterfangens zu halten, wenn genau dieselben Politiker dein "Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege" vom 11.1.1993 zustimmen, das in erster Linie Wirtschaftskriminellen nützt? (Unter Aufweichung des strafprozessualen Prinzips der materiellen Wahrheit kann zukünftig eine Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr auf Bewährung statt in der Hauptverhandlung auch durch Strafbefehl verhängt werden, was diesem Täterkreis ein Erscheinen vor dem Richter erspart und dem Strafprozeß durch Absprachen von Verteidigung und Staatsanwaltschaft den Handel mit der Gerechtigkeit als neue Prozeßmaxime beschert.)

  • Eine "Strategie" gegen Kriminalität hat heute niemand; auch nicht die Populisten, die des behaupten. Allheilmittel gegen Organisierte Kriminalität wie gegen Kriminalität allgemein gibt es nicht. Vielmehr bedarf es "je nach Deliktsart" spezifischer Gegenmittel.

Illegales wirtschaftliches Handeln, illegales Handeln schlechthin wird in der "Sicherheitsdebatte" verkürzt als Ausdruck nicht hinreichend funktionierender staatlicher Kontrolle und Repression begriffen. Illusionär ist, daß die Strafjustiz wichtigster Faktor bei der Kriminalitätsbekämpfung und auch bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität sein soll. Die vergebliche Eindämmung des Drogenhandels als Teil der Wirtschaftskriminalität sagt hierüber einiges aus. Obwohl das staatliche Verfolgungsinstrumentarium gegen den Drogenhandel nicht nur in Deutschland erweitert worden ist, sind Erfolge nicht zu vermelden. Im Gegenteil 2000 tote Fixer bleiben jährlich auf der Strecke, und im Drogenhandel wird viel "schmutziges Geld" verdient.

  • Organisierte Kriminalität ist in erster Linie ein politisches, soziales und kulturelles Phänomen und Spiegelbild der Gesellschaft. Die Vermeidung von Wirtschaftsverbrechen fordert deshalb zuvorderst soziale und politische Änderungen. In puncto Drogendelikten bleibt eine neue Drogenpolitik und dabei die tabuisierte Legalisierungsforderung und Entkriminalisierung im Mittelpunkt, um so dem Rauschgifthandel den Markt aus der Hand zu nehmen und Beschaffungskriminalität, die für mehr als ein Drittel der Wohnungseinbrüche verantwortlich sind, zu unterbinden.
  • Mit einer funktionierenden Gewerbeaufsicht und einem Wirtschaftsrecht, das den gewandelten Bedingungen für wirtschaftliches Handeln zurecht wird, ließe sich vieles, auch im Umweltrecht, besser und durchaus marktwirtschaftlich regeln. Verbote und Eingriffsinstrumente müssen so gestaltet werden, daß sich marktwirtschaftliches Handeln in einem von Staat und Gesellschaft als illegal deklarierten Bereich wegen zu hoher "Zusatzkosten“ nicht mehr lohnt. Dem Kosten-Nutzen-Denken der Täter und Schadensverursacher kann deshalb durchaus über die Beeinflussung von Sanktionshöhe und Sanktionswahrscheinlichkeit, etwa im Verbund mit Bußgeldtatbeständen (mit der Möglichkeit der Gcwinnabschöpfung), bei der Normdurchsetzung Rechnung getragen werden. Eine solche funktionierende flächendeckende Gewerbeaufsicht ist jedoch gegenwärtig politisch nicht erwünscht.
  • Soziale Kontrolle und Mobilisierung der Gesellschaft ist wichtiger als staatliche Kontrolle. Eine effektive Bekämpfung des Organisierten Verbrechens setzt daher eine Demokratisierung der Unternehmen, Transparenz von Verwaltungsentscheidungen, ein umfassendes Akteneinsichtsrecht; BürgerInnenbeteiligung bei Beratung, Vergabe und Kontrolle von öffentlichen Projekten sowie innerbetrieblich eine Stärkung von Betriebstäten und Gewerkschaften als Kontrollinstanzen voraus.
  • Auf den strafrechtlichen Bereich wird nicht vollständig verzichtet werden können. Wirtschaftsstaatsanwaltschaften und Referate der Kripo sollen ebenso wie Finanzämter rechtsstaatlich und effektiv arbeiten können. Die von den Apologeten "Innerer Sicherheit" geforderte "Waffengleichheit" darf nicht die Institutionalisierung von grundrechtswidrigen Ermittlungstechniken bedeuten, sondern primär, daß Ermittler personell und finanziell besser auszustatten bzw. auszubilden sind. Polizisten sind von ineffektiven Verwaltungsaufgaben (z.B. von der Aufnahme von Verkehrsunfällen ohne Körperschäden) freizustellen. Wirtschaftsverbrechen müssen in der Ausbildung von Juristen, in Forschung und Lehre eine Rolle spielen.

Von der Redaktion stark gekürzte Fassung - der ganze Text kann bestellt werden bei: internationale Liga für Menschenrechte e. V., Mommsenstr. 27, 10629 Berlin, Tel. 030 - 3 24 36 88, Fax 030 - 3 24 02 56

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