C-Waffen: Versteckspiele? 

von Otfried Nassauer

Die Bundestagsabgeordnete Angelika Beer wollte es genau wissen. Sie fragte die Bundesregierung explizit, ob es neben Clausen in der Vergan­genheit auch andere Lager mit amerikanischer Giftgasmunition in der Bundesrepublik gegeben habe, was gegebenenfalls mit diesen Lagern geschah, und wann in der Vergangenheit Transporte chemischer Waffen in der Bundesrepublik stattgefunden hätten. Insgesamt 12 detaillierte Fragen zu diesem Komplex. Die Bundesregierung reagierte am 23. Mai 1990 mit einer einzigen Antwort: "Vom Juli bis Oktober 1967 wurden die hier lagernden amerikanischen chemischen Kampfstoffbestände aus den USA per Schiff, Bahn und LKW direkt in das Depot Clausen gebracht. (...) Andere chemische Munition oder chemische Kampfstoffe lagern die US-Streitkräfte nicht auf deutschem Boden."

Diese Antwort ist weder vollständig noch der Wahrheit entsprechend. JCSM-970-62, das "Streng Geheim" eingestufte - heute freigegebene - Memorandum 970 der Vereinigten Stabschefs der US-Streitkräfte aus dem Jahre 1962, straft die Bundesre­gierung Lügen: Bereits "im zweiten Quartal des Haushaltsjahres 1959" wurde ein C-Waffen-Lager in der Bundesrepublik eingerichtet, das Rhein Ordnance Depot, das zu den Militäreinrichtungen Kirchheimbolan­dens zählt. Vermutlich handelt es sich dabei um eines der Depots bei Kriegsfeld.

Anhang B des Dokumentes gibt Auf­schluß über die Munitionstypen und die gelagerten Mengen: Insgesamt 3902 tons, knapp 3540 Tonnen Giftgas seien dort gelagert. Granaten des Ka­libers 105mm mit den Kampfstoffen GB und HD, Granaten des Kalibers 155mm mit denselben Giften, Mörser­granaten 4,2 Inch mit HD, sowie 12 Tonnen (Behälter) mit GB und 90 Tonnen mit HD. Insgesamt fast die zehnfache Menge dessen, was unter enormen Sicherheitsvorkehrungen kürzlich aus der Bundesrepublik ab­transportiert wurde.

Das Dokument weist auch die dama­lige Zukunftsplanung der US- Streit­kräfte aus: Vorgesehen war die Ein­richtung von 3 Giftgas-Depots für das Heer in Clausen, Leimen und Merzal­ben sowie eines weiteren Depots für die US-Luftwaffe in Morbach, einem Munitionsdepot des Flugplatzes Hahn. Geplante Kampfstoff-Menge: Mehr als 8900 Tonnen. Ob neben Clausen ein weiteres Lager verwirklicht wurde, ist derzeit nicht bekannt. Sicher aber ist damit, daß es früher zumindest ein weiteres Giftgas-Depot in der Bundes­republik gegeben hat. Dies verschwieg die Bundesregierung in ihrer Antwort. Grund genug, die Offenlegung der ganzen Wahrheit über die Geschichte amerikanischer C-Waffenlager erneut zu fordern. Was ist mit den Waffen aus dem Rhein Ordnance Depot ge­schehen? Wurden neben Clausen weitere Lager eingerichtet? Berech­tigte Fragen, auf die eine Antwort noch immer fehlt.

Oder hat des Schweigen einen ande­ren, einen politischen Grund? Schon möglich. Der Vorgang entbehrt nicht der Brisanz. Das Giftgas im Rhein Ordnance Depot wurde von den US-Streitkräften 1959 heimlich eingela­gert. "Die Lagerung dieser Waffen war nie Gegenstand förmlicher amerika­nisch-deutscher Verhandlungen", stel­len die Vereinigten Stabschefs in ih­rem Memorandum 1962 fest. Schein­bar wurden nur ausgewählte Politiker und Militärs aus der Regierung Adenauer und dem Ministerium Strauß damals informell in den Sach­verhalt eingeweiht. In der deutschen ôffentlichkeit tobte gerade der Streit um die Atombewaffnung - "Kampf dem Atomtod".

Mit gutem Grund wollten die Stabschefs dies nun ändern: Es sei wünschenswert, so hielten sie in ihrem Papier fest, "daß die Lagerungsrechte für diese Munitionen nunmehr durch Einbeziehung in die vorgeschlagenen amerikanisch-deutschen Verhandlun­gen fester verankert" wurden. An an­derer Stelle wird der euphemistische Charakter dieser Forderung deutli­cher. Um die Lagerung zu ermögli­chen, sei es erforderlich, "um die Sta­tionierungsrechte zu verhandeln".

In der Tat: Die rechtliche Grundlage für die Stationierung chemischer Waffen im Jahre 1959 dürfte gänzlich gefehlt haben. oder schärfer noch: Sie war ein US-amerikanischer Vertrags­bruch, geduldet von jenen Mitgliedern der Bundesregierung, die um sie wußten.

Gebrochen wurde die sogenannte "Effektivstärkenregelung" des Artikels 4 Abs. 2 des Deutschland-Vertrages vom 5. Mai 1955. Dort heißt es: "Die Bundesrepublik ist damit einverstan­den, daß vom Inkrafttreten der Abma­chungen über den deutschen Verteidi­gungsbeitrag an Streitkräfte der glei­chen Nationalität und Effektivstärke wie zur Zeit dieses Inkrafttretens in der Bundesrepublik stationiert werden dürfen." Vor 1959 aber hatten die US-Streitkräfte auf bundesdeutschem Ter­ritorium keine chemischen Waffen gelagert. Die Stationierung war somit nur mit Zustimmung der Bundesregie­rung möglich. Trotzdem wurde sie ohne diese vollzogen. Ein klarer Fall.

Verschweigt die Bundesregierung die Lagerung amerikanischer chemischer Waffen, um diesen Vertragsbruch zu decken? Oder um nicht eingestehen zu müssen, vom Bündnispartner mit Wis­sen bundesdeutscher Politiker zeitwei­lig hintergangen worden zu sein? Wollte sie im außenpolitisch kompli­zierten Gefecht rund um die deutsche Einheit keine Debatte um allierte Streitkräfte aufkommen lassen?

Nicht nur in der ehemaligen DDR - auch in der Geschichte der Bundesre­publik gibt es offensichtlich die Not­wendigkeit, einiges gründlicher aufzu­arbeiten.

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Hintergrund
Otfried Nassauer (1956-2020) war freier Journalist und leitete das Berliner Informationszentrum für transatlantische Sicherheit – BITS (www.bits.de)