Nummer Eins im Welthandel

Chinas Aufstieg zur Weltmacht

von Karl Grobe
Schwerpunkt
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Vor sieben Jahren hat China die USA im Welthandel überholt. Seit 2014 ist die Volksrepublik auf diesem Gebiet die Nummer 1. Den zweiten Platz in der Wirtschaftsleistung hat das Land schon vier Jahre davor Japan abgenommen. Während diese beiden Konkurrenten – auch wegen der Covid-19-Pandemie – zeitweilige ökonomische Rückgänge verzeichneten, stieg Chinas Wirtschaftsleistung auch in den vielen Monaten der Seuche weiter an, besonders rasch im ersten Quartal 2021.

In der Kybernetik nimmt China längst eine führende Position ein; nicht nur die leidige Diskussion, ob chinesische Firmen wie Huawei am – in Deutschland zögerlichen – Ausbau des G5-Netzes beteiligt werden sollten, zeigt das. Dass der größte Teil unserer Smartphones in der Volksrepublik montiert und, was bedeutsamer ist, entwickelt wurde, ist ein weiterer Hinweis. An die Weltraum-Unternehmen Chinas muss da nicht erst erinnert werden.

Politisch ist China längst nicht mehr die zurückhaltendste der fünf Mächte, die Mitglied des UN-Sicherheitsrates sind. China wiegt mehr als Frankreich und Großbritannien, Russland ist eher Juniorpartner als Konkurrent. Und anders als noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts tritt die Pekinger Führung entschlossen auf. Präsident, Partei- und Armeechef Xi Jinping weist ziemlich offen darauf hin, dass sein Land historisch auf einen – den – Spitzenplatz gehöre. Die ökonomische Potenz ist das stärkste Argument.

Diese Entwicklung lässt an das Aufkommen des Imperialismus erinnern. Um 1840 hatte die damals unumstritten führende Weltmacht Großbritannien zunächst wirtschaftlich, dann militärisch „die Welt erobert“, und China war ein Schauplatz dieses Dramas. Der Opiumkrieg – 1839 ausgelöst einerseits durch das Interesse Großbritanniens, China den westlichen Märkten zu öffnen, und durch Chinas Widerstand gegen die illegale Einfuhr von Opium aus Indien durch die britische Ostindienkompanie – ist geradezu ein Paradebeispiel. Auch die Folgen. Die europäischen Großmächte teilten China in „Einflusssphären“ auf: Staatengroße Zonen im Hinterland, in denen jeweils eine – Großbritannien, Frankreich, Russland, dann auch Deutschland, dazu Japan – ökonomisch freie Hand und politisch indirekte Macht hatten. Der Kolonisierung (wie Indien und Afrika) entging China aus miteinander zusammenwirkenden Gründen: Es war zu groß, kulturell (anders als Indien und Afrika) zu einheitlich, und die Konkurrenz der fremden Mächte gegeneinander zu stark. So blieb China als Staat erhalten – als Halbkolonie, bis zu Japans Niederlage 1945 – und Territorium vielfältiger Revolutionen (Taiping-Revolution, Boxeraufstand, Sturz der Qing-Dynastie), schließlich Zerfall in Machtgebiete von militärischen Bandenführern, zuletzt notdürftig vereint unter der Herrschaft der Guomindang – und wirtschaftlich so zerrüttet und korrupt, dass Bauern rebellierten und durch revolutionäre junge Intellektuelle schließlich eine Art Führung gewannen. Es war der Ursprung der eigentlichen Revolution.

Seit den japanischen Annexionen (Mandschurei) und Invasionen (1931) war China im Kriegszustand, seit 1936 in einer nominell einheitlichen Front gegen Japan, in der die Revolutionäre unter Mao Zedongs Führung die Revolution bis zum Kriegsende um der nationalen Einheit willen zurückstellten. Danach eroberten sie die volle Staatsmacht. Es war der Ausgangspunkt der dynamischen Entwicklung Chinas von der ausgeplünderten Halbkolonie zur Weltmacht.

Kein gerader Weg. Die Ideale und Ideologien der revolutionären Jahrzehnte prallten mit der sozialen und kulturellen Realität des Landes zusammen; die Gesellschaft ließ sich durch politische Kampagnen und gewaltsam ausgetragene „Linienkämpfe“ nicht in ein utopisches Konzept zwingen. Nach dem Bürgerkrieg war die Republik China, der Staat der Guomindang, auf das Gebiet der Insel Taiwan geschrumpft; der China zugeordnete ständige Sitz im UN-Sicherheitsrat blieb der Insel-Republik erhalten, die Volksrepublik nur von wenigen Staaten anerkannt – und das ideologisch begründete Bündnis mit der Sowjetunion zerbrach bald.

Die Abfolge innenpolitischer Auseinandersetzungen erzeugte Opfer. Hundert-Blumen-Kampagne und die darauf folgende Aktion gegen Rechtsabweichler (1957), der Große Sprung nach vorn (1958-1961) mit einer auch durch Wetterkatastrophen bedingten Hungersnot (1962), die Ein-Kind-Politik und die Kulturrevolution (1966-1969) mit ihren Nachfolgekämpfen haben Dutzende Millionen Menschenleben gekostet. Dennoch stieg die Wirtschaftskraft. Und die Zwänge der Planwirtschaft lösten sich auf.

Aufstieg zur Wirtschafts-Weltmacht
Dass die allein herrschende Kommunistische Partei nicht bereit war, der ökonomischen eine politisch-kulturelle Liberalisierung folgen zu lassen, erwies sich nach der Niederschlagung der Protestbewegung (Tian’anmen-Bewegung) im Juni 1989. Den folgenden historischen Kompromiss zwischen Volk und Partei – „ihr haltet euch aus der Politik heraus, wir lassen euch produzieren, wie ihr wollt“ – setzten schließlich Deng Xiaoping und die Parteiveteranen durch. Der Aufstieg des chinesischen Kapitalismus hatte er mit simplen Sentenzen begründet: „Egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist – Hauptsache: Sie fängt Mäuse“ oder: Es schadet nicht, wenn einige zuerst reich werden.

Die KPCh hatte damit den Rest der alten Parteiideologie verloren. Aus dem wirtschaftlichen Erfolg leitet die Staats- und Parteiführung eine nationalistische Ideologie ab, besonders deutlich seit Xi Jinping an die Parteispitze gelangt ist und dort wohl auf Lebenszeit bleiben wird.

Mit der Handels- und Investitionsoffensive der Neuen Seidenstraße (Belt and Road Initiative) setzt die Pekinger Führung Schwerpunkte: Direkte Bahnverbindung vom Gelben Meer bis Duisburg; Erwerb des Hafens von Piräus; Schifffahrtsverbindung durch den arktischen „nördlichen Seeweg“; Hafenbauten in Pakistan und Myanmar. In Afrika und Lateinamerika sind chinesische Unternehmen die aktivsten Investoren. Und China dominiert das weltweit größte Freihandelsabkommen „Regional Comprehensive Economic Partnership“ (RCEP), das im November 2020 in Hanoi gegründet wurde und fast ganz Asien (außer Indien und dem Nahen Osten) sowie Australien und Neuseeland umfasst.

Shanghai-Kooperationsrat
China dominiert auch den Shanghai-Kooperationsrat, dem Russland, Indien, Pakistan, die zentralasiatischen Republiken zugehören und dem Iran und Afghanistan beitreten wollen. Die Shanghai-Organisation führt längst jedes Jahr Militärmanöver aus, sowohl am Uralgebirge als auch in den Gewässern des Südchinesischen Meeres.

Dieses Meergebiet ist von China – 1946, vor der Revolution – als Interessengebiet beansprucht worden, genauer: das zentrale Meeresgebiet bis nahe an Indonesien. Den Anspruch markierten neun Striche – dashes – auf einer Regionalkarte, die „Nine Dash Line“. Doch die Anrainerstaaten Vietnam, Indonesien, die Philippinen, Malaysia, Brunei und nicht zuletzt Taiwan haben Rechte auf Territorial- und Wirtschaftsgewässer. Der Konflikt wird manchmal virulent; und weil auch Japans Importe (Öl!) und Exporte durch dieses Meer transportiert werden, und auch die USA zeigen sich aktiv interessiert. Mit Japan hat China Auseinandersetzungen wegen der Senkaku-Inseln; im zentralen Asien gibt es immer wieder Scharmützel mit Indien wegen der Himalaya-Grenze, die 1913 zwischen Großbritannien als Kolonialherr Indiens, Tibet und einem dubiosen Vertreter Chinas festgelegt wurde, von Peking aber nie anerkannt worden ist. Die Südchinasee kann Ausgangspunkt eines globalen Konflikts werden. Darauf hat im April wieder der pensionierte US-Admiral James Stavridis in einem „Zeit“-Interview hingewiesen.

Im März bezeichnete US-Außenminister Anthony Blinken den Aufstieg Chinas als größte geopolitische Herausforderung der Gegenwart. Die USA sehen ihre Hegemonie bedroht; dass der Weltfrieden nur auf einer dynamischen und multipolaren Ordnung bestehen kann, ist in dieser Denkweise nicht vorgesehen. Aber Chinas Dynamik zwingt zum Nachdenken.

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Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.