Atomkrieg aus Versehen

Das Risiko eines „Atomkriegs aus Versehen“ steigt

von Karl Hans Bläsius
Hintergrund
Hintergrund

Es kann viele Risiken bzgl. Atomwaffen und viele Arten geben, wie ein Atomkrieg entstehen kann. Dieser Beitrag behandelt nur ein spezielles Risiko: Atomkrieg aus Versehen als Folge eines Fehlalarms in einem Frühwarnsystem für nukleare Bedrohungen. Solche Frühwarnsysteme dienen der Vorhersage von Angriffen mit Atomraketen und basieren auf Sensoren und sehr komplexen Computer-Netzwerken. In diesen Frühwarnsystemen kann es zu Fehlalarmen kommen, d.h. es wird ein Angriff gemeldet, obwohl keine Bedrohung vorliegt. Ursachen hierfür können z.B. Hardware-, Software-, Bedienungsfehler oder eine falsche Bewertung von Sensorsignalen sein.

Die Abschreckungsstrategie hat in der Vergangenheit einen bewussten Atomkrieg verhindert, schützt aber nicht vor einem Atomkrieg aus Versehen. In der Vergangenheit gab es einige kritische Situationen aufgrund von Fehlalarmen in Frühwarnsystemen, und nur durch großes Glück ist bisher nichts passiert.

Das Risiko eines Atomkriegs aus Versehen wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erheblich steigen. Ein neues Wettrüsten in verschiedenen militärischen Dimensionen hat begonnen. Die meisten dieser Entwicklungen sind noch am Anfang und die Folgen kaum kalkulierbar. Dies gilt für neue Trägersysteme von Atomwaffen, wie Hyperschallraketen, die geplante Bewaffnung des Weltraums, der Ausbau von Cyberkriegskapazitäten und die zunehmende Anwendung von Systemen der Künstlichen Intelligenz. Alle diese Aspekte spielen auch in Frühwarnsysteme zu Erkennung von Angriffen mit Atomraketen rein und werden die Komplexität dieser Systeme deutlich erhöhen.

Auch in Zukunft wird es viele Fehlalarme in Frühwarnsystemen geben. Dies gilt auch deshalb, weil es heute deutlich mehr Atommächte gibt als in den 1980er Jahren und diese auch Frühwarnsysteme haben oder aufbauen werden. Fehlalarme sind dann gefährlich, wenn eine Krisensituation vorliegt, eventuell mit gegenseitigen Drohungen, so dass man einen Angriff einem Gegner auch zutraut oder wenn zeitnah weitere negative Ereignisse vorkommen, die mit der Alarmmeldung in Zusammenhang gebracht werden können.

Cyberangriffe und Klimawandel
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Fehlalarme in Frühwarnsystemen in Zukunft auch zu Zeiten schwerer Krisen entstehen, da u.a. Cyberangriffe und Klimawandel vermehrt zu schwerwiegenden Krisen führen werden. Jeder Konflikt wird heute durch Cyberangriffe begleitet. Dies wird sich verstärken, und es werden auch kritische Infrastrukturen bedroht sein. Der Klimawandel wird bis Mitte des Jahrhunderts bereits erhebliche Auswirkungen haben, auch in Regionen mit Atommächten wie China, Indien und Pakistan, und wird zu Krisen, Konflikten und vielleicht auch kriegerischen Auseinandersetzungen um Lebensraum und wichtige Ressourcen wie Wasser und Nahrungsmittel führen.

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass bei einem Fehlalarm in einer Krisensituation zeitnah weitere negative Ereignisse eintreten, denn schon alleine die zu erwartenden Cyberangriffe während solcher Krisen sind negative Ereignisse. Zunehmende militärische Aktivitäten in Krisensituationen können weitere negative Ereignisse in zeitlichem Zusammenhang erzeugen.

Die Bewertung von Alarmmeldungen wird immer schwieriger. Aufgrund immer kürzerer Vorwarnzeiten gibt es bereits Forderungen, in Zusammenhang mit Frühwarnsystemen autonome KI-Systeme zu entwickeln, die vollautomatisch eine Alarmmeldung bewerten und gegebenenfalls einen Gegenschlag auslösen, da für menschliche Entscheidungen keine Zeit mehr bleibt. Die für eine Entscheidung verfügbaren Daten sind jedoch unsicher und unvollständig. Deshalb können auch automatische Systeme in solchen Situationen nicht zuverlässig entscheiden. Weder Menschen noch Maschinen werden dazu in der Lage sein.

Das Risiko, dass ein Fehlalarm bzgl. Atomwaffen ernst genommen wird, wird umso größer, je mehr über ein Kriegsrisiko gesprochen oder sogar mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht wird. Im Falle eines Fehlalarms in einer Krisensituation können auch solche Äußerungen leicht zu Fehleinschätzungen bezüglich möglicher Aktivitäten eines potenziellen Gegners führen. Wenn man bei einem Fehlalarm dem Gegner aufgrund der aktuellen Situation einen solchen Angriff zutraut, kann es leicht zu falschen fatalen Entscheidungen kommen. Besonders wichtig ist deshalb ein gewisses Mindestmaß an Vertrauen und Kommunikation zwischen nuklear bewaffneten potenziellen Konfliktpartnern.

Wenn in einem Frühwarnsystem ein Angriff mit einer oder wenigen Raketen gemeldet wird, sollte das unkritisch sein, denn nach einem Einschlag müsste immer noch eine Gegenreaktion möglich sein. Ein Fehlalarm in einem Frühwarnsystem ist dann besonders gefährlich, wenn ein Angriff durch viele Atomwaffen gemeldet wird, was in der Vergangenheit auch häufig vorkam. In einem solchen Fall macht eine Gegenreaktion nur dann Sinn, wenn diese auch mit vielen Atomwaffen erfolgt.

Das Risiko kann also hoch sein, dass es irgendwann in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten zu einem Atomkrieg aus Versehen mit dem Einsatz vieler Atomwaffen innerhalb weniger Minuten kommt. Ein Atomkrieg aus Versehen ist daher nicht vergleichbar mit den Atombombenabwürfen 1945. Damals hatten nur die USA Atomwaffen und brauchten keine Gegenreaktion zu fürchten. Heute würden die Auswirkungen erheblich gravierender sein, auch mit der Gefahr eines Nuklearen Winters.

Falls es zu einem Nuklearen Winter kommt, kann die Nahrungsmittelproduktion zum Erliegen kommen und damit das Überleben der gesamten Menschheit bedroht sein. Selbst bei einem lokal begrenzten Atomkrieg zwischen Indien und Pakistan kann ein nuklearer Winter die Folge sein, der für ein Jahrzehnt weltweit zu Ernteausfällen und damit zu einer erheblichen globalen Nahrungsmittelknappheit führt. Als Folge kann es zu weiteren Kriegen oder Bürgerkriegen kommen. Die heutigen Gesellschaftsformen könnten zusammenbrechen und in Gewalt um die nötigen Grundbedürfnisse enden.

Was kann getan werden:
Abrüstung: Wichtig sind natürlich Abrüstungsvereinbarungen bezüglich Atomwaffen. Das seit 22. Januar 2021 gültige Atomwaffenverbot kann hierfür eine gute Grundlage sein. Da aber unklar ist, ob und wann eine Vernichtung der gefährlichen Atomwaffen erreicht werden kann, wäre es wichtig, vorher Rüstungskontrollvereinbarungen zu treffen bezüglich Cyberkriegskapazitäten und autonomen Waffen. Denn auch diese Waffenarten können unkalkulierbare Wechselwirkungen mit Frühwarnsystemen und den Nuklearstreitkräften haben.

Vertrauen und Kommunikation: Das Verhältnis zwischen potenziellen Konfliktpartnern muss dringend verbessert werden, also z.B. zwischen Nato-Partnern und Russland oder USA und China. Sonst besteht in Krisensituationen die Gefahr von Fehleinschätzungen und fatalen Entscheidungen. Vertrauen und Kommunikationsmöglichkeiten sind heute deutlich schlechter als zu Zeiten des Kalten Krieges.

Klimawandel: Erfolgreiche Maßnahmen gegen den Klimawandel reduzieren auch das Risiko schwerwiegender Krisen und Konflikte und reduzieren damit auch das Risiko eines Atomkriegs aus Versehen durch Fehler in Frühwarnsystemen.

Öffentlichkeit: Eine breite öffentliche Diskussion über die Atomkriegsrisiken wird eine Voraussetzung dafür sein, dass dieses Thema von der Politik aufgegriffen und geeignete Maßnahmen umgesetzt werden können.

Weitere Informationen zu den Gefahren eines Atomkriegs aus Versehen: www.akav.de

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Karl Hans Bläsius war bis 2017 an der Hochschule Trier, Fachbereich Informatik, beschäftigt und ist Mitgründer der Initiative atomkrieg-aus-versehen.de.