Zivile und gewaltfreie Strategien

Den IS ohne Gewalt stoppen?

von Christine SchweitzerRenate Wanie

Nach dem 13. November 2015 erklärte Präsident Hollande, Frankreich sei von außen angegriffen worden und befinde sich im Krieg. Und dass, obwohl alle Attentäter aus Frankreich oder Belgien kamen. Der UN-Sicherheitsrat erklärte kurz danach (21.11.15), der IS stelle eine "globale und noch nie dagewesene Bedrohung" für Sicherheit und Frieden in der Welt dar und forderte alle Nationen auf, sich dem Kampf gegen den IS anzuschließen. Deutschland beschloss Anfang Dezember, sich mit Tornados und einem Kriegsschiff ebenfalls zu beteiligen.

Es scheint, dass die Politik nichts aus den gescheiterten Kriegen in Afghanistan und Irak gelernt hat. Der Krieg in Afghanistan hat nicht zu einer Befriedung des Landes geführt. Der völkerrechtswidrige Angriff auf den Irak wechselte die Regierung aus, aber stürzte das Land in einen Bürgerkrieg und ist u.a. direkt verantwortlich für die Entstehung des Islamischen Staats. Der sog. „Krieg gegen den Terror“ kann nicht militärisch gewonnen werden - selbst falls die IS-Führung und eine Großzahl seiner Kämpfer in Syrien und Irak getötet werden sollten, der Krieg wird sich neue Schauplätze suchen. Und dann wird wieder militärisch eingegriffen, sofern der Krieg nicht so weit weg von Europa ist, dass wir nichts davon mitbekommen.

Krieg als Antwort auf  Gewalt und Krieg dreht lediglich an der Schraube der Gewalt, vernichtet Menschenleben und bestärkt die UnterstützerInnen des IS. Der Westen predigt Völkerrecht und Menschenrechte, aber in Wirklichkeit scheut er nicht davor zurück, beides beinahe nach Belieben zu brechen, wenn es in das eigene politische Kalkül passt – man denke daran, dass Al-Qaida lange ein Verbündeter des Westens war (s. Kulow 2015) und an die Drohnenangriffe, die genauso Terrorangriffe sind wie die Bomben von IS und Al-Qaida.

Es ist an der Zeit, diese Spirale der Gewalt endlich zu durchbrechen. Wir haben hier einige Überlegungen und Vorschläge aus verschiedenen Quellen kurz zusammengefasst.

Besonnen auf Anschläge reagieren
Anschläge als Kriegshandlungen zu werten, ganze Städte unter Ausnahmezustand zu stellen, Überwachung zu verstärken ... -  all das sind Maßnahmen, die die Ziele von Terroristen jeglicher Couleur befördern. Sie wollen Angst (Terror = französisch: terreur = Angst) und Chaos und Unterdrückung säen und dadurch Menschen in ihre Arme treiben.

Dem IS die internationale Unterstützung entziehen
Der IS bekommt immer noch viel Unterstützung aus anderen Ländern. Menschen, die sich ihm anschließen wollen, dürfen einreisen, Waffen werden importiert, Öl und Altertümer verkauft, auch Teile seines Vermögens dürften bei internationalen Banken liegen. Statt die europäischen Grenzen vor Geflüchteten zu schließen, sollten die Grenzen für jede Unterstützung des IS geschlossen werden.

Die ideologischen Grundlagen des IS demontieren
Die Autorität oder Legitimität, die der IS behauptet und ihm von seinen AnhängerInnen zugestanden wird (Ausrufung eines Kalifats), wird von Seiten islamischer TheologInnen wie Laien in Zweifel gezogen. Diese Argumente aus den Reihen der muslimischen Gelehrtenschaft und muslimischer Verbände sollten weiter verbreitet und auch in den nicht-islamischen Bevölkerungskreisen bekanntgemacht werden (s. auch Schröter 2015).

Verhindern, dass sich Menschen dem IS anschließen
Menschen, vor allem Jugendliche, müssen gestärkt werden, nicht der Propaganda des IS zu verfallen: Das gilt hier für uns, wo es gilt, Marginalisierung zu beenden, und besonders sollte es auch für die Länder und Regionen gelten, aus denen der IS die große Mehrzahl seiner ausländischen Kämpfer rekrutiert – in anderen arabischen und nordafrikanischen Ländern und Staaten der früheren Sowjetunion. Was junge Männer brauchen, die derzeit durch Unruhen und Kriege paralysiert sind, sind Möglichkeiten, sich zu bewähren und nützlich zu machen. Nach Bauer sind das „familiäre und soziale Verbundenheit und ein Zugang zu Bildungswegen. Wenn die zivilisierte Welt ihnen diese Möglichkeiten nicht bietet, suchen sie nach Alternativen.“ (Bauer 2015)

Eine wichtige Maßnahme sind die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und das Schaffen von Lehrstellen. Jobperspektiven gerade für junge Menschen haben sich in anderen Regionen dabei bewährt, Menschen von Extremismus und Gewalt zurückzuhalten (s. auch Lakey 2015). „Viele Türken haben die Erfahrung gemacht, dass ihr Name allein ausreicht, nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden – oder dass der Personaler seine Verwunderung darüber ausdrückt, wie gut der Bewerber Deutsch könne.“ (Abdel-Samad 2014, S. 197) Solche Mauern müssten eingerissen werden, nicht nur in den Köpfen. Damit ließe sich u.U. viel mehr erreichen, als mit jeder Islam-Konferenz.

Menschen dabei unterstützen, den IS zu verlassen
Es gibt immer Menschen, die nach Möglichkeiten suchen, den IS wieder zu verlassen. Sei es aus Desillusionierung oder Erschrecken darüber, worauf man sich eingelassen hat. Oder wenn der Glanz bröckelt, wenn die anfänglichen militärischen Erfolge aufhören oder die Gruppe zum Rückzug aus bestimmten Gegenden gezwungen wird. Auch die Furcht vor Strafverfolgung mag hier manchmal eine Rolle spielen, sofern eine realistische Gefahr (aus Sicht der KämpferInnen) besteht, vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu landen. Sie brauchen Unterstützung. Das  gilt auch für die viel diskutierten westlichen Jugendlichen: Ihnen sollte der Weg zurück in ein ziviles Leben eröffnet werden. Sofern Strafverfolgung unabdingbar scheint, sollte sie so gestaltet sein, dass sie die Abkehr vom IS fördert und ihnen eine realistische Chance gibt, wieder in ein normales Leben zurückkehren zu können.

Menschen schützen vor der Gewalt des IS
Die Menschen, die vor der Gewalt des IS, Al Quaidas oder der Taliban fliehen, brauchen unsere Unterstützung – sowohl jene, die in Camps in der Region leben wie jene, die den Weg nach Europa wagen. Auch vor Ort gibt es u.U. Möglichkeiten nichtmilitärischen Schutzes: Ohne Waffen Menschen vor Krieg und Gewalt schützen – das ist, was wir als ziviles Peacekeeping bezeichnen. Die NGO Nonviolent Peaceforce hat ein Projekt zivilen Peacekeepings mit Menschen aus Syrien gestartet. Ziviles Peacekeeping verhindert keinen Terror, aber es leistet einen Beitrag zur Sicherheit in Konfliktregionen. Dadurch wird den Menschen vor Ort nicht nur das physische Überleben leichter gemacht, sondern auch Raum geöffnet, an politischen Lösungen zu arbeiten.

Mit dem IS sprechen
Gespräche mit dem IS bzw. mit seinen innerirakischen (und innersyrischen) Unterstützern aufnehmen, um humanitäre Erleichterungen durchzusetzen und um auszutesten, was politisch möglich ist. Die Erfahrungen mit anderen Untergrundbewegungen und extremistischen Gruppen lehren, dass es möglich ist, Gespräche anzubahnen. Das gilt für die Taliban (siehe, was Otmar Steinbicker immer wieder beschreibt) ebenso wie für Nordirland (man denke an Mary Montague, die dieses Jahr mit dem Bremer Friedenspreis ausgezeichnet wurde und die zahlreiche Kämpfer im nordirischen Untergrund überzeugte, ihre Gewalt zu beenden) und die ELN in Kolumbien.

Ziviler Widerstand
In Syrien und Irak leisten Menschen, besonders Frauen, zivilen Widerstand gegen den IS (s. Williams 2015/2014). Es könnte sein, dass am Ende dieser Widerstand vor Ort mehr Wirkung zeigt als die internationalen Interventionen.

Hilfe und Wiederaufbau
Wichtig sind des Weiteren Hilfe für jene Gebiete, aus denen sich der IS zurückzieht. Es darf nicht sein, dass - wie in Syrien - Gegenden, die sich vom Assad-Regime befreit hatten, ohne jede internationale Unterstützung da standen. Das machte sie anfällig für den IS oder andere radikale Gruppen, die sich gerne als Ordnungsmacht aufspielen und über humanitäre Hilfe Menschen für sich zu gewinnen suchen. Lakey (2015) weist darauf hin, dass Wiederaufbauprogramme Widerstandskraft stärken, so dass „Leute nicht vor Furcht erstarren und sich selbst erfüllende Prophezeiungen schaffen“.

Der IS ist unser Produkt – also müssen wir uns ändern
Viele AutorInnen weisen darauf hin, dass der IS wie Al Qaida das Produkt verfehlter internationaler und innergesellschaftlicher Politik ist. Global sind es die Kriege (Afghanistan, Irak usw.), die Drohnenangriffe und die einseitige Unterstützung Israels durch den Westen, die solche Gruppen entstehen ließen und stark machten. Und natürlich der Waffenhandel, der die Mittel zu Krieg bereitstellt. Susanne Schröter . (2015) spricht von der „Doppelzügigkeit der deutschen Diplomatie“, die mit den Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien den Jihadisten eine Steilvorlage für die Legitimation des Jihad als Kampf für Gerechtigkeit liefere

Innenpolitisch sind es die Marginalisierung von Menschen aus muslimischen Ländern, das Feindbild Islam und die Ungleichbehandlung durch Behörden und Polizei, die zu Hass und Fanatisierung führen. So schreibt die Islamwissenschaftlerin Lamyar Kaddor (2015), dass die meisten Menschen bei uns den Islam vor allem im Kontext der fanatischen Strömungen und ausschließlich als politische Ideologie betrachteten. Das habe aber mit einem Verständnis des Islam in seiner Breite nichts zu tun.

 

Quellen:

Abdel-Samad, Hamed (2014): Der islamische Faschismus. Eine Analyse. Droemer-Knaur

Bauer, Joachim: Irrationale Taten haben Ursachen. In: Tageszeitung vom 21./22.11.2015, S. 11

Kaddor, Lamya (2015): Wir müssen Gottes Wort in heutige Kontexte anpassen. Interview in: Philomagazin-Verlag (Hrsg.): Philosophie-Magazin: Der Koran. Sonderausgabe, Juni 2015, Berlin, S. 96

Kulow, Karin (2015): Islamischer Staat – ein willkommener Feind? In: W&F Dossier 80, S. 19-23

Lakey, George (2015) 8 ways to defend against terror nonviolently, http://wagingnonviolence.org/feature/8-ways-defend-terror-nonviolently/

Schweitzer, Christine (2015): Nachdenken über das Unvorstellbare: Soziale Verteidigung gegen den Islamischen Staat. In: HuD 45, Hrsg. BSV, November 2015

Schweitzer, Christine (2015): Aus der Spirale der Gewalt aussteigen, in: HuD Nr 45, Hrsg. BSV, November 2015

Schröter, Susanne (2015): Der unbekannte Feind. In: Frankfurter Rundschau vom 8./9.8.15, S. 4

Williams, Kristin (2015): Wege, wie Frauen in Syrien Frieden und Demokratie aufbauen. In: HuD 45, Hrsg. BSV, November 2015

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.