Der Eckstein der Rüstungsbegrenzung bei Atomwaffen

Der ABM-Vertrag von 1972

von Otmar Steinbicker
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Der ABM-Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen (englisch: Anti-Ballistic Missile Treaty / ABM) wurde am 28. Mai 1972 als ein Bestandteil der der SALT-I-Vereinbarung zwischen den USA und der UdSSR geschlossen und galt als Eckstein der Rüstungsbegrenzung bei Atomwaffen. Am 13. Juni 2002 traten die USA einseitig von diesem Vertrag zurück.

Noch Ende der 1950er / Anfang der 1950er Jahre hatten beide Seiten nicht nur an Atomraketen als Offensivwaffen gearbeitet, sondern auch an Defensivsystemen zum Schutz vor anfliegenden feindlichen Raketen. In den USA wurde dazu eine Nike Zeus/Spartan-Rakete mit einem atomaren Gefechtskopf entwickelt, die ballistische Raketen weit außerhalb der Atmosphäre abfangen und zerstören sollte. Auf sowjetischer Seite gab es ähnliche Entwicklungen.

Die Kubakrise vom Oktober 1962, die um Haaresbreite zu einem atomaren Schlagabtausch zwischen beiden Ländern geführt hätte, löste auf beiden Seiten einen Schock aus und führte zu Überlegungen, wie ein Atomkrieg künftig verhindert werden könnte, ohne den atomaren Rüstungswettlauf völlig zu beenden.

Die einfache, aber wirkungsvolle Lösung bestand darin, die Möglichkeiten zur Raketenabwehr auf beiden Seiten so drastisch einzuschränken, dass ein groß angelegter Angriff mit Atomraketen nicht hätte abgewehrt werden können. Damit wurde die gegenseitige Verwundbarkeit festgeschrieben, die in den Folgejahren auch mit dem Satz „Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter“ beschrieben wurde. Beide Seiten wären bei einem gegenseitigen großen Einsatz von Atomwaffen schutzlos der Vernichtung preisgegeben.

Auf dem Prinzip der gesicherten gegenseitigen Vernichtung ließen sich Vereinbarungen über eine Begrenzung der Offensivraketen leichter treffen. Ob man sich nun 100 oder 1000 mal gegenseitig vernichten konnte, machte letztlich keinen großen Unterschied.

Vereinbart wurden im ABM-Vertrag  demzufolge der Aufbau eines landesweiten Raketenabwehrnetzes und die Entwicklung, Erprobung und Aufstellung weiterer see-, luft- oder weltraumgestützter und landbeweglicher ABM-Systeme. Zugestanden wurde ursprünglich jeder Seite die Aufstellung von zwei ABM-Stellungen mit jeweils 100 Abwehrraketen. Später vereinbarte man, nur noch jeweils eine ABM-Stellung zuzulassen, entweder zum Schutz der Hauptstadt oder zum Schutz einer Anlage von Interkontinentalraketen für den gesicherten Zweitschlag im Falle eines atomaren Angriffs.

Mit dem ABM-Vertrag als Eckstein vereinbarten beide Seiten im zweiten Teil von SALT I, ihre strategischen Atomraketen, sowohl die land- als auch die seegestützten, auf dem Stand von Mitte 1972 einzufrieren. Die USA besaßen damals 1.054 Interkontinentalraketen mit bis zu 10 Gefechtsköpfen, die UdSSR 1.618 Raketen mit bis zu 3 Gefechtsköpfen.

Als im Sommer 1980 Colin S. Gray und Keith Payne, zwei bedeutende US-Strategieplaner, in einem Artikel in der Zeitschrift „Foreign Policy“ unter dem Titel „Sieg ist möglich“ ein Szenario für eine aus ihrer Sicht siegreiche US-Atomkriegsführung entwarfen, war ihnen die Problematik der im ABM-Vertrag vereinbarten gegenseitigen Verwundbarkeit bewusst. So schrieben sie: „Eine Kombination von offensivem Entwaffnungsschlag, Zivilschutz und einem Abwehrsystem gegen ballistische Raketen bzw. Luftabwehr müssten die US-Verluste so niedrig halten, dass ein nationales Überleben und Wiederaufbau möglich sind. Gleichgültig wie ernst eine sowjetische Herausforderung auch sein mag, ein amerikanischer Präsident kann einfach nicht mit einem Atomschlag drohen und ihn auch auslösen, wenn dabei ein Verlust von 100 Millionen Amerikanern und mehr zu befürchten wäre.“ In ihrem Konzept setzten die beiden Autoren darauf, „dass eine intelligente amerikanische Offensivstrategie, in Verbindung mit Heimatverteidigung, die US-Verluste auf etwa 20 Millionen Menschen reduzieren würde.“

Wer auch immer eine Option für eine auch nur annähernd plausible Atomkriegsführung besitzen wollte, musste also den ABM-Vertrag als Eckstein aus dem Gebäude der atomaren Rüstungsbegrenzung oder Abrüstung entfernen.

Am 13. Dezember 2001 kündigte US-Präsident George W. Bush den ABM-Vertrag mit den lakonischen Worten auf: „Heute habe ich Russland dem Vertrag entsprechend formell mitgeteilt, dass die USA sich aus diesem fast 30 Jahre alten Vertrag zurückziehen.“ Diese Kündigung trat dann nach Ablauf von sechs Monaten in Kraft.

Für den Rüstungswettlauf blieb das Ende des ABM-Vertrages nicht ohne Folgen. Russland und China, die sich potenziell von den USA in einem Atomkrieg bedroht sehen, suchen in der Logik der Abschreckung mit neuen Waffensystemen ihrerseits die gesicherte Zweitschlagskapazität zur Vernichtung der USA sicherzustellen – nicht durch Aufstockung von Interkontinentalraketen, sondern durch den Bau von mit Atomsprengköpfen bestückten Hyperschallwaffen, gegen die nach derzeitigem Stand der Technik die Raketenabwehrsysteme kaum etwas ausrichten können.

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de