Gütekraft bei Hildegard Goss-Mayr

Der Kern der aktiven Gewaltfreiheit

von Martin Arnold
Hintergrund
Hintergrund

Gewaltfreier Einsatz mobilisiert eine Wirkkraft, die weltweit verschieden benannt wird. (1) Gandhi nannte sie „satyagraha“, gemäß seiner Erläuterung mit „Gütekraft“ zu übersetzen. (2) Hildegard Goss-Mayr gebraucht gelegentlich „Gütekraft“ neben „Kraft der Gewaltfreiheit“.

Bei einem Fachgespräch in Iserlohn präzisierte Hildegard Goss-Mayr: „[...] was ich unter Gütekraft verstehe: Eine Kraft, die eine Dynamik bewirkt, Bewegung, Gestaltung, Veränderung; eine Kraft, die der Wahrheit, der Liebe und der Gerechtigkeit zur Überwindung von Leben mindernden, Leben zerstörenden Haltungen (Gewalt) und zum Aufbau von größerer Gerechtigkeit, Versöhntheit und Frieden für den Einzelnen und die menschliche Gemeinschaft beiträgt. Vor mir steht der Begriff ‚Leben in Fülle für alle’.“ (3)

„Ich sehe sehr deutlich die Notwendigkeit der wissenschaftlichen Erforschung und Annäherung an den Begriff der Gütekraft. […] Ich glaube, es ist nötig, eine holistische, umfassende Sicht aufzubauen und der Öffentlichkeit vorzustellen. Ich sage „Annäherung”, weil meiner Meinung nach Gütekraft Dimensionen enthält, die erkenntnismäßig, kognitiv, nicht erfassbar sind: Ein Element der Transzendenz, die Kraft der Liebe oder Compassion, die in den verschiedenen Religionen und Kulturen unterschiedlich benannt wird.“ (4)

„Einen gewaltfreien Weg vorbereiten“, Menschheitsgeschichte schreiben
Manila, Philippinen, 1984: Die brutale Marcos-Diktatur lähmt und quält das Land. Ein Ende ohne Blutvergießen scheint täglich unmöglicher zu werden. Das Ehepaar Jean und Hildegard Goss-Mayr, von Ordensleuten gerufen, lernt die Lage im weithin katholischen Inselstaat kennen.
„Agapito Aquino [besuchte uns], der eine politische Oppositionsbewegung leitete. Er sagte: ‚Der bewaffnete Widerstand hat sich an mich gewandt und gesagt: Mit den paar Demonstrationen werdet ihr nie dieses System zu Fall bringen. Wir geben euch … Geld und … Waffen, wenn eure Bewegung mittut. … Ich kann nicht mehr schlafen … Habe ich das Recht, das Volk in einen Krieg zu führen? … Gibt es einen gewaltfreien Weg?’

Wir […] haben ihm gesagt: Ja, es gibt einen gewaltfreien Weg. Aber einen gewaltfreien Weg muss man vorbereiten, das heißt, man kann einen gewaltlosen Befreiungskampf nicht führen ohne Schulung, ohne innere und äußere Vorbereitung. Wir fahren jetzt nach Europa zurück. Ihr selbst, überlegt euch in Ruhe, ob ihr bereit seid, den gewaltfreien Kampf aufzunehmen; wenn ja, dann kommen wir zurück und sind bereit mitzuhelfen.“

J. und H. Goss-Mayr laden zu einer Lebensentscheidung für die Liebe ein und für das Vertrauen auf die Kraft der Gewaltfreiheit, auch in der Politik. Es geht nicht um Strategiefragen, es geht um Lebenssinn, eine existenzielle Herausforderung. Gütekräftiger Einsatz erfordert die Bereitschaft, selbst an vorderer Stelle zu den Kosten für die angestrebte Veränderung beizutragen. Nur wenn die Entscheidung für die Gütekraft in der Persönlichkeit verwurzelt ist, wird sie auch in einem lebensbedrohlichen und womöglich langen Kampf durchgehalten.

„Oppositionsführer [haben dann] zehn Tage lang gefastet, um sich darüber klar zu werden, ob sie ihre Befreiung mit Gewalt durchsetzen oder mit gewaltfreien Mitteln herbeiführen sollten, und um die Situation und ihre eigene Einsatzbereitschaft zu prüfen.“
Fasten ermöglicht, sich selbst zu prüfen und die Haltung der Güte einzuüben.

„Am Ende dieser zehn Tage haben sie beschlossen, ihre privaten Berufe für eine Zeit aufzugeben und sich der gewaltfreien Bewegung zur Verfügung zu stellen. Dann haben sie uns eingeladen und gebeten, Modellschulungskurse mit ihnen durchzuführen.“

Die dann folgenden Aktivitäten haben erstrangige historische Bedeutung: Zum ersten Mal in der Geschichte wurde aufgrund bewusster Entscheidung für die gewaltfreie/gütekräftige Vorgehensweise und aufgrund daraufhin systematisch durchgeführter Vorbereitung und Schulungen in Haltung und Methoden eine Diktatur überwunden. (5)

In den Folgejahren gab es in vielen Ländern, auch in Europa, gewaltfreie/gütekräftige Revolutionen.

Transzendenz: Gütekraft ist die Kraft Gottes (6)
Für Hildegard und Jean Goss-Mayr ist ihr christlicher Glaube das Fundament der ethischen Grundhaltung, die die Ziele und die Methoden des gütekräftigen Vorgehens prägt. Gütekraft ist für beide persönlich erfahrene Kraft Gottes. Eine Vision verändert Ostern 1940 Jean Goss‘ Leben.: „Eine ungeheure Kraft des Friedens und der Freude breitete sich in mir aus.“ Als zum Tode Verurteilter spricht er mit dem Henker, dieser weigert sich daraufhin, das Todesurteil zu vollstrecken. Er erlebt auch später wiederholt, wie eine quälende Lage durch seine Worte völlig umgekehrt wird. Die Betroffenen fühlen sich wie er zur Liebe befreit und werden fähig, sich zu versöhnen und einen neuen Anfang zu wagen. Sie erleben die Liebe als unwiderstehliche und zugleich befreiende Kraft Gottes.

Auch Hildegard wurde von solchen Erlebnissen verändert. Das Grauen des Zweiten Weltkrieges hatte ihren Glauben an den Menschen und die Menschlichkeit erschüttert. Schließlich jedoch „wuchs in mir die Überzeugung, dass ich nicht weiterleben könnte, ohne mein Leben der Arbeit für den Frieden durch die Kraft der Gewaltlosigkeit zu widmen. Später fand ich in der Botschaft der universalen, sich selbst opfernden Liebe Jesu die Inspiration für diesen Weg. Sie hat mein ganzes Leben und mein christliches Zeugnis gestärkt und erleuchtet.“

„Transzendenz“ ist für H. Goss-Mayr eine Dimension der Wirklichkeit: Teil unserer menschlichen Existenz. Theistische Religionen nennen sie „Gott“. Wird die Transzendenz der Gütekraft gespürt, kann sie „ihre volle Kraft entfalten“. Denn daraus folgen u.a. Bescheidenheit und Vertrauen. Ein vertrauendes Bewusstsein von Mitverantwortung, Freiheit und menschlicher Würde, von Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe und einer Vision des Lebens in Fülle für alle mit transzendenter Verwurzelung führt zu langfristiger Einsatzbereitschaft und Durchhaltevermögen. Für H. Goss-Mayrs Transzendenz-Vorstellungen ist die „Verbindung von Spiritualität mit Engagement“, also von Mystik und Politik, „untrennbar“. Diese Haltung nennt sie „combattiv“, aktiv-streitbar. Das bedeutet auch, wenn nötig herauszufordern und zu streiten.

Obwohl ihr Konzept auf christlichen Motiven aufbaut, hängt es nicht vom Glauben an Christus ab. Sie hat auch mit Muslim*innen und mit Buddhist*innen Seminare zur Kraft der Gewaltfreiheit gemäß deren Traditionen gehalten.

Gewissen und menschliche Würde
„Ich bin überzeugt, dass Gütekraft eine in jedem Menschen grundgelegte Urkraft ist.“

„Ich möchte nicht so dargestellt werden, dass ich Gütekraft nur durch religiös motivierte Persönlichkeiten verwirklicht sehe. Jeder Mensch trägt in sich die Fähigkeit, gütekräftig zu handeln.“

Beispiel ist der gewaltfreie Widerstand in der CSSR 1968 ohne religiöse Motive. Engagierte unterschiedlicher Weltanschauungen können – auch gemeinsam – gütekräftig handeln, und Gegner können auch über Weltanschauungsgrenzen hinweg erreicht werden (wobei Gemeinsamkeiten dies erleichtern).

„Als eine die Lebensweise orientierende Kraft hat sie [die Gütekraft] auch eine ganz spezifische Sicht des Menschen, seiner selbst wie der anderen. Es ist eine Frage der Beziehung. Vier wesentliche Perspektiven dieser Sicht des Menschen zeichnen sich ab:

  • Erstens die Achtung jedes Menschen,
  • Zweitens die Überzeugung, dass jeder über ein Gewissen verfügt, das ansprechbar ist, das veränderungsfähig ist. Das ist etwas ganz Wesentliches, es macht die Würde des Menschen aus, dass wir diese Möglichkeit in uns tragen: Die Veränderungsfähigkeit zum Guten und natürlich auch zum Negativen.
  • Dritter Punkt: Die Bereitschaft zum Engagement, das heißt die Bereitschaft, Konsequenzen, die aus solchem gütekräftigen Handeln entstehen, freiwillig und bewusst auf sich zu nehmen.
  • Viertens gütekräftige Methoden zu erlernen, um an einer Alternative in Richtung auf Leben in Fülle für alle zu arbeiten. Das Ziel ist nicht Sieg, sondern doppelte Befreiung: Befreiung der Opfer und Befreiung der Täter in Richtung auf versöhntes Leben.“
    „Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen der Person (sie ist wandlungsfähig, kann ihre Haltung und ihr Verhalten ändern) und dem Unrecht [für das sie verantwortlich ist]. Das heißt: Es ist ein Weg möglich: Böses kann durch Gutes überwunden werden.“

Die Konsequenz davon ist weder psychologisch selbstverständlich noch allgemein akzeptiert: „Achtung von Freund und Feind, von Opfer und Mörder, von Unterdrückten und Unterdrücker, [...] Der Mensch trägt in sich nicht nur die Fähigkeit, (Selbst)Mörder zu sein, denn der Geist Gottes hat in jedem die Kraft, zu lieben, gerecht zu sein und zur Wahrheit zu stehen, grundgelegt.“

Es gibt nicht „gute Menschen“ gegenüber „bösen Menschen“, sondern für H. Goss-Mayr gilt, „[...], dass jeder – welches auch seine Ideologie, seine Ethik, sein Glaube sein mögen – fähig ist, [...] aufzuspüren, dass auch der andere ein Gewissen hat, und dass eben dieses Gewissen erreichbar und durchlässig ist für die Kraft der Wahrheit, der Gerechtigkeit und Liebe.“

Das Gewissen (7) begründet die universelle Anwendbarkeit der Gütekraft als Brücke zwischen allen Menschen, begehbar durch gütekräftiges Handeln. Dabei werden andere Menschen eingeladen, sich auch für ein gerechtes, würdiges Miteinander einzusetzen.

Was die UN-Menschenrechtserklärung proklamiert, dazu hat H. Goss-Mayr weltweit erfolgreich angeleitet:

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

Anmerkungen
1 https://www.martin-arnold.eu/wp-content/uploads/2020/01/2020-0119GkAusdr...
2 wörtlich: Festhalten an der Wahrheit
3 Alle Zitate sind von Hildegard Goss-Mayr, siehe https://www.martin-arnold.eu/?page_id=319.
4 Siehe Ebda. In der pdf-Datei „Gütekraft. Ein Grundmodell…“ sind Quellenangaben zu allen Zitaten im vorliegenden Artikel.
5 Zusammenfassender Philippinen-Bericht mit Video-Stück: https://kraft-der-guete.blogspot.com/search?q=philippinen
6 Zur Gütekraft gehören Haltung und Methoden, hier wird nur H. Goss-Mayrs Grundhaltung beschrieben.
7 Vgl. M.K. Gandhi (Hindu): „Seele“, A.G. Khan (Moslem): „Geduld und Rechtschaffenheit“, B. de Ligt (Atheist): „Wahrheit und Menschlichkeit“: www.Martin-Arnold.eu .

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