Hunderttausende Opfer

Der Krieg in Afghanistan

von Christine Schweitzer
Schwerpunkt
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Was heute als der Krieg in Afghanistan bezeichnet wird, meint meist den Angriff durch die NATO und einiger Verbündeten der NATO-Staaten auf Afghanistan 2001. Aus afghanischer Sicht war dies nur eine neue Phase von Krieg und Bürgerkrieg, die mindestens bis in das Jahr 1978 zurückging, als eine in den 1970er Jahren entstandene kommunistische Partei sich an die Macht putschte. Es herrschte bald Bürgerkrieg, in dem sich die Gegner des Regimes unter einer islamischen Identität zusammenfanden. Am 27. Dezember 1979 griff die Rote Armee ein und besetzte Afghanistan, um die kommunistische Regierung zu stützen. Anfänglich glaubte Moskau, sich schnell wieder zurückziehen zu können, was sich als Fehlrechnung erwies. Mindestens 15.000 russische Soldaten verloren ihr Leben. Die Opfer auf afghanischer Seite können nur geschätzt werden – die Zahlen reichen von 562,000 bis zu 2 Millionen. 1989 zogen sich die sowjetischen Truppen zurück.

Dies geschah zu einer Zeit, als die Spannungen zwischen dem Warschauer Vertrag und den NATO-Staaten sowieso wegen der Mittelstreckenraketen stiegen. Die US-Regierungen unter Carter und dann Reagan begannen, bei den drei Millionen afghanischen Geflüchteten in Pakistan Kämpfer gegen die Besatzung rekrutieren, die Mudschahedin. Diese Ausbildungen starteten, wie später zugegeben wurde, schon sechs Monate vor dem Einmarsch der Roten Armee. 1992 eroberten die Mudschahedin Kabul. Es folgte eine weitere Phase eines blutigen Bürgerkriegs, aus dem schließlich die Taliban erfolgreich hervorgingen. 1996 nahmen sie Kabul ein und riefen die Islamische Republik aus. Sie kontrollieren fast das gesamte Land; nur im Nordosten kämpft die sog. Nordallianz weiter. 2001 griff dann die NATO Afghanistan an und stürzte die Talibanregierung. Nach dem Abzug der westlichen Truppen Ende Juli 2021 haben die Taliban erneut die Regierung übernommen (siehe die Chronik in diesem Heft).

Opferzahlen
Die Zahlen der Opfer variieren sehr stark, was die afghanischen Opfer angeht. Nach Zahlen einer Quelle von 2021 sind 66.000 afghanische Soldaten und Polizist*innen gestorben, über 51.000 Taliban und Mitglieder anderer oppositioneller Gruppen und über 47.000 Zivilist*innen. Der Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) nennt ähnliche Zahlen und sagt, dass die wirklichen Zahlen wahrscheinlich höher liegen dürften. Andere Quellen setzen besonders die Zahl der getöteten Zivilist*innen deutlich höher an.

Wie viele Menschen an indirekten Kriegsfolgen starben, ist unbekannt. Joachim Guilliard geht von mindestens 800.000 direkten und indirekten Opfern des Krieges aus.

Genaue und vermutlich zuverlässige Ziffern gibt es bezüglich der gefallenen ausländischen Soldat*innen: USA bis April 2021: 2.448 Soldat*innen, private Unterauftragnehmer der USA: 3.846, Soldat*innen anderer NATO-Staaten: 1.144, davon 59 deutsche.

 

Flucht und Vertreibung
Flucht und Vertreibung haben nicht erst 2001 begonnen. Auch schon die früheren Krisen, die sowjetische Besatzung, der Bürgerkrieg und die Talibanherrschaft, führten zu einem massiven Exodus. Nach Zahlen von statista.de waren im Jahr 2020 weltweit ca. 2,59 Millionen afghanische Flüchtlinge im Ausland registriert. 2001 waren es weltweit ca. 3,89 Millionen Geflüchtete. In Deutschland leben fast 300.000 Menschen mit afghanischen Wurzeln. Die meisten Geflüchteten gingen in die Nachbarländer, z.B. Pakistan und Iran. Mehrmals kam es in den zwanzig Kriegsjahren zu Massenabschiebungen aus diesen Aufnahmeländern. Doch auch Europa begann ab ca. 2015 mit Abschiebungen; Deutschland schob noch bis Mitte August 2021 Afghan*innen ab.

Die Zahl der Menschen, die innerhalb Afghanistans als Vertriebene lebten, schwankte während des Krieges; eine Gesamtzahl ist deshalb kaum anzugeben. Allein 2011 wurden über 250.000 Betroffene gezählt. Das zuständige afghanische Ministerium sprach 2017 von 550.000. Nur eine kleine Zahl von ihnen konnte eine neue Heimat finden, die meisten verblieben in Lagern, falls sie keine Unterkunft bei Verwandten finden konnten.

Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen
Schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen wurden von allen Seiten in dem Krieg begangen, nicht nur von den Taliban oder anderen Milizen, sondern auch von den alliierten Truppen. Dazu gehörten insbesondere:

  • Tötung, und Verletzung von Zivilist*innen.
    Besondere Aufmerksamkeit in den Medien erfuhren die Luftangriffe der USA (auf Anforderung Deutschlands hin) 2009 auf Zivilist*innen in Kundus, die versuchten, von zwei liegengebliebenen Tankfahrzeugen Benzin abzuzapfen, und 2015 auf ein Hospital der Ärzte ohne Grenzen ebenfalls in Kundus. Auch Australien geriet in die Schlagzeilen: Australischen Spezialeinheiten wurde in einem offiziellen Bericht des australischen Verteidigungsministeriums nachgewiesen, dass sie zwischen 2005 und 2016 39 Zivilisten und Gefangene ermordeten.
  • Vergewaltigungen von Zivilist*innen und Kriegsgefangenen durch Soldaten,
  • Gewaltsame Hausdurchsuchungen und Zerstörung von Häusern,
  • Angriffe und Tötung von „Terroristen“ außerhalb von Kriegshandlungen (CIA-Tötungsprogramm).
  • Festhalten von Kriegsgefangenen, ohne ihnen den entsprechenden Status einzuräumen. Die USA bezeichneten sie als „feindliche Kämpfer“; bis heute sind etliche Männer in Guantánamo auf Kuba inhaftiert, nicht nur aus Afghanistan. Besonders gefürchtet war das Gefängnis der USA in Bagram, eine Parallele zu Abu Ghraib im Irak, auch wenn es weniger bekannt war.
  • Folter von Kriegsgefangenen durch die alliierten Truppen in diesen und anderen Einrichtungen, auch in Osteuropa und in Zusammenarbeit mit Ländern, wo Folter praktiziert wird.

Interessen und Motive
Von Anfang an erhoben sich aus der Friedensbewegung, aber auch darüber hinaus, kritische Stimmen, die vermuteten, dass es nicht oder nicht nur um Al Kaida und dessen Unterstützung durch die Taliban ginge, was die offizielle Kriegsbegründung war.

Wie beim Golfkrieg 1991 wurde schnell vermutet, dass Erdöl ein Motiv für den Krieg sein könnte. Zwar gibt es in Afghanistan wenige nennenswerten Erdöl- und Erdgasquellen (gerade genug, dass Afghanistan zur Zeit der sowjetischen Besatzung einen Außenhandelsüberschuss verzeichnen konnte), aber u.a. in den benachbarten Kasachstan und Turkmenistan. Es gehe um die „geostrategische Lage Afghanistans, nahe den riesigen Öl- und Gasreserven der kaspischen Region. Das eigentliche Kriegsziel der USA stelle deshalb‚ die Kontrolle der Ölvorräte der Region‘“ dar, wie Jürgen Wagner (imi) 2001 schrieb.

Den Hauptgrund sahen Jürgen Wagner und andere Beobachter*innen aber in einer geplanten Erdgaspipeline, die von Turkmenistan über Afghanistan und Pakistan nach Indien führen sollte. Vor dem Hintergrund der Spannungen und Feindschaften mit Russland und Iran war es für die USA interessant, eine Pipelineroute zu sichern, die beide Länder umging, so die Vermutung.

Allerdings kam es anders, vielleicht, weil die „Befriedung“ des Landes nicht gelang, sondern schon wenige Jahre nach der Besetzung der Bürgerkrieg erneut eskalierte. Vielleicht aber ist doch die Bedeutung dieser Pipeline überschätzt worden? Mit dem Bau der Pipeline wurde erst 2015 begonnen; 2021 wurde er abgeschlossen. Ob sie aber in Betrieb genommen wird, ist derzeit nicht klar.

Afghanistan ist zudem reich an bestimmten Erzen: Kupfer, Eisen, Kobalt, Gold, Uran, Steinkohle, Zinn, Blei, Quecksilber, Lithium sowie an seltenen Erden (Cerium, Lantha und Neodym). Dieser Rohstoffreichtum war schon seit Jahrzehnten bekannt, und die US-Administration hat sowohl unter Obama wie später unter Trump versucht, ihn auszubeuten, scheiterten aber an der Gewalt und der Korruption im Lande. Ähnlich erging es China: Es hatte sich schon früh, vor 2014, Abbaurechte an einer enormen Kupfermine in Mes Ayan gesichert, nicht westliche Firmen, doch das Projekt wurde anscheinend aufgrund der Korruption wieder aufgegeben.

Anders stellt sich das Bild da, wenn man den gesamten Nahen und Mittleren Osten in den Blick nimmt. Es gab schon vor dem 11. September (im Sommer 2001) Überlegungen, Afghanistan anzugreifen. Seine strategische Lage in unmittelbarer Nähe zum Iran, Russland und China geben Afghanistan eine geographische Schlüsselstellung in der Region.

Letztlich scheint es, dass den USA und ihren Verbündeten ähnlich ergangen ist wie der Kolonialmacht Großbritannien im 19. Jahrhundert: Für sie war Afghanistan aufgrund seiner Lage zwischen Russland, China, Iran usw. wichtig, zu kontrollieren. Auch seine Rohstoffe stellten einen Anreiz dar, heute mehr als damals, wo viele der genannten Erze und Erden immer seltener werden. Aber alle scheiterten an dem Widerstand der Afghanen, die weder eine Besatzung wollten, noch bereit waren, sich westlichen Vorstellungen von einem modernen Staat zu beugen.

Dieser Text ist ein Auszug aus den Artikeln, die im Rahmen eines Afghanistan-Monitoring-Projekts erstellt wurden. Sie sollten Anfang 2022 online gestellt werden; aufgrund des Ukraine-Kriegs sind sie aber weiter unpubliziert. Die Quellen werden dort ausführlich dokumentiert.

Christine Schweitzer verfasste dieses Monitoring-Dossier als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und gewaltfreie Konfliktaustragung (IFGK).

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.