Afghanistan

Der Krieg und die Interessen des Westens

Die Interessenskonstellation in Afghanistan ist vielschichtig. Sie umfasst einmal die Frage, welche Motivation ursprünglich zum Beginn des Krieges im Oktober 2001 führte – und zwar sowohl aus US-amerikanischer als auch aus Sicht der Verbündeten, wobei sich hier aus Platzgründen auf die Erwägungen der Bundesregierung beschränkt wird. Andererseits muss dabei zudem geklärt werden, weshalb der Einsatz auch acht Jahre nach seinem Beginn, koste es was es wolle, fortgesetzt werden soll.

Wie inzwischen hinlänglich belegt ist, drängten einflussreiche Kreise der Bush-Administration, namentlich die Hardliner um den damaligen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und seinen Stellvertreter Paul Wolfowitz sowie Vizepräsident Dick Cheney, bereits unmittelbar nach Amtsantritt der US-Regierung und verstärkt nach den Anschlägen des 11. September 2001 auf einen sofortigen Angriff auf den Irak. Der einzige Grund, weshalb hiervon zunächst Abstand genommen wurde, lag darin, wie u.a. der damalige Finanzminister Paul O'Neill angab, dass dies beim besten Willen nicht vermittelbar gewesen wäre.[1]

Daraus zu folgern, der Afghanistan-Krieg sei völlig losgelöst von ökonomischen und strategischen Interessen erfolgt, ist jedoch falsch. Denn nachdem man das Land in der Folge des sowjetischen Abzugs zunächst einmal sich selbst und seinem Bürgerkrieg überließ, erwachte das Interesse etwa Mitte der 90er Jahre aufs Neue. Der Grund lag in den Energievorkommen der angrenzenden kaspischen Region, um deren Kontrolle eine harte Auseinandersetzung zwischen den USA und Russland entbrannt war. Über Afghanistan sollte in diesem Zusammenhang eine zentrale Pipelineroute verlaufen, um das damals bestehende russische Transportmonopol zu brechen und die Region so dem Zugriff Moskaus zu entziehen.

Von den Taliban erhoffte man, dass sie die hierfür erforderliche Stabilität im Land herstellen könnten, weshalb sie von Washington zunächst regelrecht hofiert wurden. Nach deren Machtübernahme am 26. September 1996 erwogen die USA zunächst sogar ihre diplomatische Anerkennung. Eine Schlüsselrolle kam dabei Zalmay Khalilzad zu, einem der wichtigsten Strategen der Bush-Administration, der nach 2001 zunächst Afghanistan-Sonderbeauftragter und anschließend US-Botschafter im Irak werden sollte. Er fertigte für UNOCAL, die Firma, die für den Bau der Pipeline vorgesehen war, Mitte der 90er die Risikoanalyse an und setzte sich zunächst in zahlreichen Beiträgen für eine enge Kooperation mit den Taliban ein. Ab 1998 setzte jedoch ein Sinneswandel ein, denn es wurde klar, dass die Taliban von den US-Pipelineplänen keineswegs hellauf begeistert waren und zudem auch Schwierigkeiten hatten, das Land vollständig unter Kontrolle zu bekommen. Aus diesem Grund plädierte u.a. Khalilzad von da ab für einen Regime Change: "Washington muss die Taliban schwächen. [...] Mit der Zeit sollten sich die USA sich um eine neue afghanische Führung bemühen, eine, die mehr im Einklang mit unseren regionalen Interessen steht."[2]

Parallel zur Verschärfung des Kurses nahm Washington Verhandlungen mit den Taliban auf, die Ende 2000 begannen und zwischen Juli und August 2001 scheiterten. Die USA bestanden dabei auf zwei Forderungen: Zum einen auf der Auslieferung Bin Ladens; zum anderen auf einer Regierungsbeteiligung der mit den Taliban verfeindeten Nordallianz, da man dies für eine Stabilisierung des Landes – und damit die Verlegung der Pipeline - für zwingend erforderlich hielt. Offensichtlich scheiterte eine Einigung am zweiten Punkt, denn Berichten zufolge boten die Taliban während des Verhandlungsprozesses mehrfach die Auslieferung Bin Ladens an: "Am 27. September 2000 hält der stellvertretende Außenminister der Taliban-Regierung, Abdur Rahmin Zahid, sogar einen Vortrag im Washingtoner Middle East Institute. Darin fordert er die politische Anerkennung seines Regimes und gibt zu verstehen, dass unter dieser Voraussetzung auch der Fall Bin Laden geregelt werden könnte."[3] Dieses Angebot wurde im Februar 2001 nochmals wiederholt.[4]

Bereits im November 2001 veröffentlichten die beiden Sicherheitsexperten Jean-Charles Brisard und Guillaume Dasquié das Buch Bin Laden, la verité interdite[5], in dem die Verhandlungen zwischen den USA und den Taliban sowie deren Scheitern ausführlich analysiert wurden. Das Öl der kaspischen Region stand offenbar tatsächlich im Zentrum des gesamten Verhandlungsprozesses: "Die beiden französischen Autoren bestätigen [...], es sei offen besprochen worden, dass die Taliban den Bau einer Pipeline aus Kasachstan erleichtern müssten, um als Gegenleistung von den USA und auf internationaler Ebene anerkannt zu werden."[6] Als diese Gespräche nicht den gewünschten Verlauf nahmen, häuften sich die Drohungen gegenüber der afghanischen Regierung, und die Pläne für einen Angriff wurden konkretisiert. Dem damaligen pakistanischen Außenminister Niaz Naik "wurde von hohen US-Offiziellen Mitte Juli [2001] mitgeteilt, dass militärische Maßnahmen gegen die Taliban Mitte Oktober beginnen würden. [...] Herr Naik sagte gegenüber der BBC, dass die US-Vertreter ihm bei diesem Treffen mitteilten, dass die USA, solange Bin Laden nicht zügig ausgeliefert wird, Militäraktionen zur Tötung oder Ergreifung sowohl Bin Ladens als auch des Taliban-Führers Mullah Omar ergreifen würden. Das weitere Einsatzziel sollte laut Naik der Sturz des Taliban-Regimes und stattdessen die Einsetzung einer Übergangsregierung moderater Afghanen sein. [...] Er sagte, er habe Zweifel daran, dass Washington, selbst bei einer umgehenden Auslieferung Bin Ladens seitens der Taliban, diesen Plan fallen lassen würde."[7]

Im Anschluss an die Invasion wurde immer wieder versucht, den Baubeginn der Pipeline einzuleiten. Zuletzt wurde 2008 beschlossen, damit 2010 zu beginnen und die Trasse bis 2015 fertig gestellt zu haben – inwieweit dies angesichts der Sicherheitslage jedoch realistisch ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.[8] Ob diese Überlegungen tatsächlich entscheidend für den Angriff gewesen sind, muss letztlich offen bleiben – schließlich wollte man nach den Angriffen des 11. September ohnehin "Handlungsfähigkeit" demonstrieren. Dass sie eine zusätzliche Motivation darstellten, genau in dieser Form in Afghanistan einzumarschieren, ohne die – vormals ja angebotene – Auslieferung Bin Ladens überhaupt von den Taliban zu fordern und so von einer militärischen "Lösung" abzusehen, kann aber wohl mit einiger Sicherheit angenommen werden.

Deutschland: Mitkämpfen und mitbestimmen
Was aber hat die Bundesregierung dazu bewegt, sich am Krieg in Afghanistan zu beteiligen? Einmal ist auch hier das Interesse zu nennen, in einer Region von zentraler geopolitischer Bedeutung militärisch präsent zu sein. Denn auch im deutschen Sicherheitsdiskurs gilt Afghanistan als "das südliche Tor zu den riesigen Öl- und Gasvorkommen Turkmenistans, Kasachstans und Aserbaidschans; ebenso zum großen Goldproduzenten Usbekistan und zu Tadschikistan, wo die größten Silbervorkommen lagern. Für diese Bodenschätze gibt es nur drei Transportwege an die Weltmeere. […] Aus Sicht westlicher Interessenten würde die Pakistan-Route zu einer besseren Risikoverteilung beitragen, doch dafür braucht man ein stabiles Afghanistan", wie Berndt-Georg Thamm, Mitglied der Clausewitz-Gesellschaft, für das Magazin Europäische Sicherheit (4/2007) schreibt. Das Interesse an einer dauerhaften Präsenz in der Region dürfte künftig noch stärker anwachsen: Denn im April 2009 sicherte sich RWE als erster westlicher Konzern in einem Abkommen die Rechte zur Ausbeutung von Energievorkommen im turkmenischen Sektor des Kaspischen Meeres.

Doch anfangs dürfte eine andere, ganz grundsätzliche Erwägung im Vordergrund gestanden haben, die generell das deutsche Bestreben antreibt, sich möglichst an nahezu jedem Militäreinsatz zu beteiligen. Die diesbezügliche Motivation wurde von CDU-Vordenker Karl Lamers damit begründet, dass die "Teilnahme an internationalen Militäraktionen eine notwendige Voraussetzung für deutschen Einfluss in der Weltpolitik" sei.[9] Wer nicht adäquat mitkämpft, hat also auf der Weltbühne auch nichts mitzureden, so jedenfalls müssen auch die Aussagen Joschka Fischers über den Sinn und Zweck des deutschen Engagements in Afghanistan interpretiert werden: "Die Entscheidung ‚Deutschland nimmt nicht teil’ würde auch eine Schwächung Europas bedeuten und würde letztendlich bedeuten, dass wir keinen Einfluss auf die Gestaltung einer multilateralen Verantwortungspolitik hätten. Genau darum wird es in den kommenden Jahren gehen. [...] Das Maß der Mitbestimmung richtet sich nach dem Maß des Mitwirkens."[10] Der Friedensforscher und Afghanistan-Experte Conrad Schetter bringt die Interessenslage folgendermaßen auf den Punkt: "Dass der Stellenwert des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan höher ist als bei den vorangegangenen in Somalia oder auf dem Balkan, liegt vor allem an den deutschen Ambitionen auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Als Voraussetzung hierfür gilt die Übernahme größerer sicherheitspolitischer Verantwortung."[11] Innerhalb des Militärs macht man sich über die machtpolitischen Hintergründe des Einsatzes jedenfalls keine Illusionen. So beschwerte sich ein KSK-Soldat gegenüber dem Journalisten Uli Rauss (Stern, 11.07.2005), die Bundesrepublik wolle einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat, "und wir werden dafür verheizt".

Afghanistan und die Zukunft der NATO
Afghanistan ist der mit Abstand wichtigste Kriegseinsatz der NATO und soll eine Art Prototyp kommender Einsätze darstellen. Scheitert die NATO dort, so hat sich auf absehbare Zeit jeder weitere Krieg zur Durchsetzung westlicher Interessen erledigt, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel verdeutlicht: "Die Stabilisierung Afghanistans [ist] so etwas wie ein Lackmustest für ein erfolgreiches Krisenmanagement und für eine handlungsfähige NATO."[12] Ganz ähnlich äußerte sich Ronald Naumann, bis 2007 US-Botschafter in Afghanistan: "Die NATO ist die fundamentale Verpflichtung eingegangen, in Afghanistan zu gewinnen. Und entweder wird sie gewinnen, oder sie wird als Organisation scheitern."[13]

Die Sorge um die Handlungsfähigkeit der NATO fällt mit dem rasanten machtpolitischen Aufstieg der potenziellen Rivalen, v.a. Russland und China, sowie zunehmenden Konflikten mit diesen beiden Ländern zusammen. Nicht wenige Beobachter prophezeien deshalb einen neuen Kalten Krieg, eine "Rückkehr der Geopolitik" (Robert Kagan), eine "globale Großkonkurrenz" (Nikolaus Busse) oder einen "Weltkrieg um Wohlstand" (Gabor Steingart).[14] Um für diese Herausforderungen gerüstet zu sein, muss die NATO als traditionelles Instrument westlicher Interessendurchsetzung ihre Schlagkraft unter Beweis stellen – und Afghanistan ist nun einmal der zentrale Schauplatz, auf dem dies – gewollt oder ungewollt - demonstriert werden muss. Unmissverständlich jedenfalls ist der Bericht der US-Geheimdienste "Global Trends 2025" vom November 2008 bezüglich der geopolitischen Auswirkungen eines westlichen Rückzugs aus Afghanistan. Dort findet sich ein auf das Jahr 2015 vordatierter fiktiver Brief des Vorsitzenden der Shanghaier Vertragsorganisation (SCO), jenem bereits teilweise als Anti-NATO bezeichneten Militärbündnis zwischen Russland, China und mehreren zentralasiatischen Staaten, an den NATO-Generalsekretär: "Vor 15 bis 20 Jahren hätte ich mir nie träumen lassen, dass sich die SCO und die NATO auf gleicher Augenhöhe befinden – wenn nicht gar, dass die SCO die sogar wichtigere internationale Organisation ist. [...] Ich denke man kann sagen, dass dies seinen Anfang mit dem westlichen Rückzug aus Afghanistan nahm, ohne dass das Missionsziel einer Pazifizierung erreicht worden wäre."[15] Abseits aller – sicherlich vorhandener – ökonomischen und strategischen Interessen, in Afghanistan geht es deshalb nicht zuletzt darum, ob der Westen in einer zunehmend brüchig werdenden Weltordnung künftig weiterhin das Sagen haben wird.

 

Literatur
[1] Suskind, Ron, The Price of Loyalty: George W. Bush, the White House, and the Education of Paul O'Neill, New York 2004

[2] Khalilzad, Zalmay/Byman, Daniel: Afghanistan: The Consolidation of a Rogue State, in: The Washington Quarterly 23:1, Winter 2000, S. 65-78, S. 74.

[3] Abramovici, Pierre: Erdölkonsortien, Geheimdienste und Internationale Vermittler, Le Monde diplomatique, Januar 2002.

[4] Vgl. Marlowe, Lara: US efforts to make peace summed up by ’oil', The Irish Times, 19.11.2001.

[5] Auf Deutsch erschienen als Brisard, Jean-Charles/Dasquié, Guillaume: Die verbotene Wahrheit: Die Verstrickungen der USA mit Osama Bin Laden, Zürich, 2002.

[6] Martin, Patrick: Der Krieg gegen Afghanistan wurde lange vor dem 11. September geplant, World Socialist Web Site, 22.11.01.

[7] Arney, George: US 'planned attack on Taleban', BBC News, 18.09.2001.

[8] Vgl. Escobar, Pepe: Obama does Pipelinistan, Ann Arbor 2009, S. 79; Foster, John: A Pipeline Through a Troubled Land: Afghanistan, Canada, and the New Great Energy Game, Canadian Center for Policy Alternatives, Foreign Policy Series, Vol. 3, No. 1, June 19, 2008.

[9] Auch die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 1992 gaben an, die Fähigkeit zur "Einflussnahme auf die internationalen Institutionen und Prozesse im Sinne unserer Interessen [ist] gegründet auf unsere Wirtschaftskraft, unseren militärischen Beitrag." Vgl. Theiler, Olaf: Die NATO im Umbruch, Baden Baden 2003, S. 284.

[10] Der Afghanistan-Krieg (2001 - ?), 12.10.2009, URL: http://www.gruene-friedensinitiative.de/texte/FAQ.pdf, S. 23.

[11] Ebd.

[12] Merkel, Angela: Handlungsfähigkeit der Nato stärken, Rede vom 25.10.2006.

[13] "Nicht gleich zum Feigling werden", Spiegel 39/2006.

[14] Busse, Nikolaus: Entmachtung des Westens: die neue Ordnung der Welt, Berlin 2009; Kagan, Robert: Die Demokratie und ihre Feinde, Bonn 2008; Steingart, Gabor: Weltkrieg um Wohlstand: Wie Macht und Reichtum neu verteilt werden, München 20082.

[15] National Intelligence Council: Global Trends 2025: A Transformed World, November 2008, S. 38.

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