Die Chancen der Anti-AKW-Bewegung

von Jochen Stay

Atompolitische Analyse: Trotz Laufzeitverlängerung kann die Stilllegung von AKW gelingen, wenn weiter genügend Menschen auf die Straße gehen.

Die Geschichte der Protestbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland ist davon geprägt, dass vor einer umstrittenen Entscheidung zwar große Demonstrationen stattfinden, viele Menschen aber nicht mehr auf die Straße gehen, wenn Regierung und Parlament trotz der Proteste hart bleiben. Das war beispielsweise so bei der Bewegung gegen die Notstandsgesetze in den 1960er Jahren, bei den Protesten gegen die Stationierung neuer Atomraketen in den 1980er Jahren und bei den Montagsdemonstrationen gegen die Einführung von Hartz IV im Jahr 2004.

Doch in den letzten Monaten hat sich etwas verändert, und für diese ermutigenden Veränderungen stehen zwei Ortsnamen: Stuttgart und Gorleben.

Ein beliebtes Argument der baden-württembergischen Landesregierung, um den Protest gegen das Immobilienprojekt „Stuttgart 21“ zu diskreditieren, war die Feststellung, es sei doch schließlich alles bereits entschieden. Was denn die Leute überhaupt noch wollten: Der Protest käme zu spät. Aber siehe da: Den empörten BürgerInnen in Stuttgart ist das herzlich egal. Sie hatten zwar die Entscheidung nicht verhindern können, tun jetzt aber alles dafür, um die Umsetzung dieser Entscheidung zu stoppen.

Ähnliches war in Gorleben zu beobachten: Obwohl der Bundestag die Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke im Oktober 2010 beschlossen hatte, kamen so viele Menschen wie niemals zuvor zu den Protesten und den Widerstands-Aktionen gegen den Castor-Transport im November. Auch hier ist das klare Ziel der Bewegung, die Umsetzung des Parlamentsbeschlusses zu verhindern.

Wie geht es weiter?
Doch wie kann das praktisch aussehen? Schließlich ist es denkbar unwahrscheinlich, dass die Bundesregierung vor der nächsten Wahl im Jahr 2013 das jetzt beschlossene Atomgesetz nochmal aufschnürt. Wann und wie das Bundesverfassungsgericht über die Klagen gegen dieses Atomgesetz entscheidet, ist völlig offen - es kann gut zwei Jahre dauern. Gibt es also überhaupt eine Chance, mit weiterem Protest erfolgreich zu sein?

Dazu ist es sinnvoll, sich einmal anzusehen, was die Anti-AKW-Bewegung im letzten Jahr erreicht hat. Schließlich gab es so große Proteste wie nie zuvor in der an Massendemonstrationen reichen Geschichte dieser Protestbewegung. 147.000 Menschen gingen am 24. April 2010 auf die Straße, davon alleine 120.000 bei einer 120 Kilometer langen Menschenkette zwischen den norddeutschen AKW Brunsbüttel und Krümmel. Am 18. September fluteten 100.000 DemonstrantInnen das Regierungsviertel in Berlin. Drei Wochen später waren in München schon wieder 50.000 unterwegs. Genauso viele waren es im November im wendländischen Dannenberg – mehr als doppelt so viele wie bei der bisher größten Demo in der 33-jährigen Geschichte des wendländischen Widerstands gegen die Atomwirtschaft.

Die Laufzeitverlängerung konnte damit zwar nicht verhindert werden. Doch durch die Einführung der Brennelementesteuer und die Verpflichtung der AKW-Betreiber, ihre Alt-Meiler sicherheitstechnisch nachzurüsten – wenn auch nicht in dem Maße, wie es notwendig wäre – sind eine ganze Reihe von Reaktoren an den Rand der Wirtschaftlichkeit geraten. Zumindest für die Kraftwerke Isar 1, Neckarwestheim 1, Philippsburg 1, Biblis A und B, Brunsbüttel und Krümmel wird in den Konzernzentralen mit spitzem Bleistift gerechnet, und es ist noch längst nicht absehbar, dass diese AKW wirklich weiterbetrieben werden – Laufzeitverlängerung hin oder her.

Die Stromkonzerne gehen ein großes Risiko ein, fallen die Kosten doch größtenteils ab sofort an, die Zusatzeinnahmen durch die längeren Laufzeiten kommen aber erst in einigen Jahren voll zum Tragen. Und falls ein nächster Bundestag die schwarz-gelben Pro-Atom-Beschlüsse wieder kippt, stehen den zusätzlichen Ausgaben keine Extraprofite gegenüber. Bleibt der Protest gegen die Atomenergie also auch die nächsten Monate so lebendig wie im letzten Jahr, dann steigt das Risiko für die AKW-Betreiber und sie knicken möglicherweise bei einer ganzen Reihe von Reaktoren ein.

Die Höhe der Nachrüstungskosten hängt entscheidend vom Verhalten der Atomaufsichten in den Bundesländern ab. Denn die sind es, die konkrete Sicherheitsauflagen erteilen können – oder eben auch nicht. Je mehr die Unsicherheit der Kraftwerke also öffentliches Thema ist, je mehr Menschen an den AKW-Standorten demonstrieren, umso stärker ist der Druck auf die entsprechenden Landesregierungen.

Besonders spannend für AtomkraftgegnerInnen ist die Situation in Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg.

Krümmel und Brunsbüttel
Im Norden sind die Reaktoren in Brunsbüttel und Krümmel seit dreieinhalb Jahren vom Netz. Betreiber Vattenfall hatte ursprünglich angekündigt, Krümmel im Januar 2011 wieder in Betrieb zu nehmen. Die designierte neue Chefin des Kraftwerks fiel aber durch einen Sicherheits-Test. Sie hat es in einer Simulation in der Übungswarte des AKW nicht geschafft, den Reaktor in einen sicheren Zustand zu bringen. 30 bis 60 Minuten waren die Zeit, die sie hätte einhalten müssen, um die Prüfung zu bestehen. Nach zwei Stunden vergeblichen Mühens wurde die Simulation abgebrochen.

Jetzt steht Krümmel ohne Betriebsleitung da. Gleichzeitig stehen die Betreiber massiv unter Druck, da .ausgestrahlt seit Dezember mit der Kampagne „Tschüss Vattenfall“ Haushalte und Betriebe in Hamburg zum Wechsel des Stromanbieters auffordert. Großplakate überall in der Stadt, ein Kinospot, „Wechselboxen“ mit Verträgen von Ökostromanbietern in zahlreichen Geschäften auf dem Tresen und Zehntausende Aufkleber mit dem Sprechblasen-Logo der Kampagne werben dafür, keinen Atomstrom mehr zu kaufen.

Vattenfall verhandelt deshalb mit Eon, da dieser Stromkonzern Miteigentümer in Krümmel und Brunsbüttel ist, ob die Betriebsführung in den beiden umstrittenen AKW ausgewechselt werden kann. Dann stünde nicht mehr Vattenfall auf dem Schild am Tor des Betriebsgeländes, sondern Eon, aber die Besitzverhältnisse blieben gleich, und der bisherige Betreiber würde weiter Millionen mit den Schrottreaktoren verdienen. Deshalb geht die Kampagne „Tschüss Vattenfall“ auch trotz der Verhandlungen um die Betriebsführung weiter. Die Gespräche mit Eon  werden sich aber bis zum Sommer hinziehen und bis dahin ist die Wiederinbetriebnahme erst mal verschoben. Ein großer Erfolg! Und so ist wertvolle Zeit gewonnen, um weiteren Protest im Norden zu organisieren.

Neben der direkten Einflussnahme auf die Betreiberfirmen durch die Macht der VerbraucherInnen ist eine weitere Möglichkeit, die endgültige Stilllegung von Krümmel und Brunsbüttel zu erreichen, dass die schleswig-holsteinische Atomaufsicht die Sicherheitsauflagen erhöht. Das ist angesichts der immensen Störfall-Risiken sowieso nötig, erhöht aber eben auch das ökonomische Risiko der Betreiber.

Baden-Württemberg
Noch spannender ist die Situation in Baden-Württemberg. Dieser Artikel ist noch vor den Landtagswahlen am 27. März entstanden. Auf die künftige Landesregierung – egal wie sie sich zusammensetzt – kommt eine knifflige Aufgabe zu. Denn das Land ist neuerdings Eigentümer des AKW-Betreibers EnBW (Energie Baden-Württemberg). Das führt einerseits zu mehr Einflussmöglichkeiten auf die Geschäftspolitik des Unternehmens, andererseits aber auch zu einem fundamentalen Interessenkonflikt:

Als Anteilseigner hat das Land Interesse an möglichst hohen Gewinnen. Als Aufsichtsbehörde muss es eigentlich teure Sicherheits-Nachrüstungen für die AKW anordnen, was die Gewinne des Unternehmens schmälern würde. In der Praxis sieht das dann so aus: Umweltministerin Tanja Gönner verschleppt seit 2007 einen Antrag der EnBW auf Nachrüstungen im Alt-AKW Neckarwestheim 1.

Ein Regierungswechsel alleine brächte in Baden-Württemberg nicht automatisch den Atomausstieg. Selbst wenn es zu einer rot-grünen Landesregierung kommen sollte, führt dies nicht zwangsläufig zur Stilllegung von Reaktoren – bestes Beispiel sind dafür die elf Jahre Rot-Grün in Hessen, die das AKW Biblis schadlos überstanden hat. Auch hier wird sich also nur etwas bewegen, wenn sich viele Menschen bewegen und auf die Straße gehen.

Die nächsten Proteste
Aber genau dies funktioniert in den letzten Monaten ja besonders gut. Und die nächsten Proteste sind schon in Vorbereitung: Am Ostermontag, den 25. April, werden an 13 Atom-Standorten in der Bundesrepublik große Proteste anlässlich des 25. Jahrestages der Katastrophe von Tschernobyl stattfinden.

Die Idee dahinter: Weil bundespolitisch derzeit alles ausgereizt scheint, ist im Augenblick der einzig erfolgversprechende Hebel, wirklich die einzelnen Reaktoren in den Fokus zu nehmen, ihre Sicherheitsdefizite und den Nachrüstungsbedarf. Da liegt die ökonomische Achillesferse in der aktuellen atompolitischen Situation.

Die Chancen stehen nicht schlecht. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass die Aktien von Eon und RWE im Jahr 2010 trotz Laufzeitverlängerung die Schlusslichter im Deutschen Aktien-Index (DAX) waren, mit Kursverlusten von bis zu 20 Prozent.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt