Ein Schritt in die richtige Richtung – und einen halben zurück

Die neuen Asylgesetze

von Fiene Wolf
Hintergrund
Hintergrund

Die Bundesregierung hat zum Ende des Jahres 2022 mit zwei Gesetzen wesentliche Rechtsänderungen für Geflüchtete in Deutschland herbeigeführt. Mit dem Gesetz zum Chancen-Aufenthaltsrecht will sie Menschen, die lange in Deutschland mit dem prekären Status einer Duldung leben, eine Perspektive zu einem Bleiberecht verschaffen. Damit sollen Kettenduldungen vermieden und Anreize zur Integration und Identitätsklärung geschaffen werden, ohne dass die Betroffenen eine Abschiebung fürchten müssen. Das zweite Gesetz soll der Beschleunigung von Asylverfahren (derzeit rund 8 Monate) (1) und Asylgerichtsverfahren (derzeit satte 27 Monate) dienen.
Abgesehen vom politisch rechten Rand herrschte im parlamentarischen Geschehen weitgehend Einigkeit über die Zielsetzung beider Gesetze. Denn nicht zuletzt soll es nicht nur den Geflüchteten selbst nutzen, wenn ihr Aufenthalt schneller geklärt werden kann, sondern auch Betrieben, Behörden und Gerichten nutzen. Über die neuen Regelungen selbst gehen jedoch die Einschätzungen von Abgeordneten, Fachleuten und der Zivilgesellschaft weit auseinander.
Der Weg zum Chancen-Aufenthaltsrecht verlief zäh, das Gesetz trat entgegen dem ursprünglich avisierten Stichtag 1.1.2022 erst ein Jahr später, zum 31.12.2022, in Kraft. Besonders bitter: Eifrige Ausländerbehörden hatten so noch viele Monate Zeit, Menschen abzuschieben, bei denen man wusste, dass sie von dem Gesetz profitieren würden.
So zum Beispiel Farruk (2) aus der PRO ASYL-Einzelfallberatung. Länger als fünf Jahre lebte er in einer sächsischen Großstadt und bereitete sich im Februar 2022 auf seine letzte Prüfung für den Bachelor in Wirtschaftsinformatik vor. „Gestern habe ich noch für meine Klausur gelernt und heute werde ich abgeschoben. Mein komplettes Leben ist zerstört“, sagte er noch dem Sächsischen Flüchtlingsrat am Telefon, kurz bevor die Polizei ihn mitnahm und nach Pakistan abschob. (3) Dass er am nächsten Tag zu einem Vorstellungsgespräch als Sachbearbeiter für Informations- und Kommunikationstechnik bei einem Landratsamt eingeladen wurde und in Pakistan nach bestandener Online-Klausur drei Jobangebote aus Deutschland erhielt: Das alles zählte nicht. Wegen der Abschiebung erhielt er eine mehrjährige Einreisesperre.
Dabei wäre Farruk als künftige Fachkraft genau solch eine Person, der die Regierung über das Chancen-Aufenthaltsrecht eine Bleibeperspektive in Deutschland geben wollte. Zehn Bundesländer haben 2022 mit sogenannten Vorgriffsregelungen (4) auf den schleppenden Gesetzgebungsprozess reagiert, um genau solche Szenarien wie bei Farruk zu verhindern – Sachsen nicht.
Das Chancen-Aufenthaltsrecht darf in Anspruch nehmen, wer am 31. Oktober 2022 geduldet ist und sich zuvor fünf Jahre geduldet, gestattet oder mit Aufenthaltserlaubnis in Deutschland aufgehalten hat, sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt, wer nicht durch falsche Angaben über die eigene Identität die Abschiebung verhindert und keine Straftaten begangen hat - wobei Verurteilungen bis zu 50 Tagessätzen bzw. 90 Tagessätzen für Straftaten, die nach dem Aufenthalts- oder dem Asylgesetz nur von Ausländer*innen begangen werden können, außer Betracht bleiben. Es verschafft den Betroffenen 18 Monate Aufenthaltssicherheit, um weitere Bedingungen für einen langfristigen Aufenthalt zu erfüllen.
Die Idee ist gut. Enttäuschend ist, dass das Chancen-Aufenthaltsrecht wegen der Stichtagsregelung nur einmal einem festen Personenkreis zusteht - und nicht verstetigt wurde, was eine wirkliche Abkehr von der Kettenduldung bedeutet hätte. So aber haben alle, die erst von November 2022 an die fünf Jahre Voraufenthaltszeit erfüllen (werden), nichts von diesem Gesetz.
Zudem wurde auf Betreiben der FDP das Bleiberecht bei besonderen Integrationsleistungen für Jugendliche und Heranwachsende gravierend verschärft. Zwar können sie nun bereits nach drei statt nach vier Jahren ein Bleiberecht beantragen, müssen aber in dem vorangegangenen Jahr durchweg geduldet gewesen sein. Während man also Erwachsenen nun für 18 Monate eine Aufenthaltssicherheit bietet, öffnet man im selben Gesetz für eine junge Personengruppe ein Fenster von zwölf Monaten, in denen man sie noch abschieben kann.

Gesetz zur Beschleunigung von Asyl- und Gerichtsverfahren
Ganz im Gegensatz zum Chancen-Aufenthaltsrecht wurde das Gesetz zur Beschleunigung von Asyl- und Gerichtsverfahren in so einem Eiltempo durch den Gesetzgebungsprozess gejagt, dass es die notwendige Sorgfalt missen lässt. Der Entwurf von Oktober 2022 wurde bereits im November im Bundestag debattiert und schließlich an das Chancen-Aufenthaltsrecht gekoppelt wenige Wochen später verabschiedet.
Es handelt sich jedoch nicht etwa um kleine Korrekturen an Verfahrensabläufen: Mit dem Gesetz werden grundlegende Verfahrensrechte für Asylsuchende angegangen. So zum Beispiel der Kern des Asylverfahrens, die Anhörung: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) soll Asylantragsteller*innen künftig über Videokonferenzen zu ihren Fluchtgründen befragen dürfen. Das soll Zeit sparen, weil Dolmetscher*innen von überall zugeschaltet werden können. So gerät jedoch die vertrauliche Gesprächsatmosphäre unter die Räder, die aber unabdingbar ist, damit Schutzsuchende über ihre oft traumatischen Erlebnisse frei sprechen können. „Nimmt man der Anhörung auf diese Weise die Qualität, ist zu erwarten, dass mehr falsche Entscheidungen getroffen werden, die zu noch mehr Klageverfahren führen“, kritisierte Rechtsanwältin Berenice Böhlo im Interview mit PRO ASYL und fügt hinzu: „Alles, was am Anfang vermeintlich an Zeit eingespart wird, rächt sich am Ende durch rechtswidrige Entscheidungen, die dann im gerichtlichen Verfahren geheilt werden müssen.“ (5)
Dabei werden bereits jetzt schon 40 Prozent aller BAMF-Bescheide, gegen die Geflüchtete vorgehen und über die inhaltlich entschieden wird, von Gerichten als rechtswidrig erkannt und aufgehoben. Keine andere deutsche Behörde leistet sich eine derartig hohe Fehlerquote. Es wäre daher logisch gewesen, für bessere Qualitätsstandards bei den BAMF-Entscheidungen zu sorgen, um die Gerichte zu entlasten. Das aber nimmt das Gesetz überhaupt nicht in den Blick.
Einige von den über 30 Neuregelungen in dem Gesetz überzeugen aber auch, so die Einführung einer behördenunabhängigen Verfahrungsberatung. Denn gut informierte Asylsuchende können besser zu einem gelingenden Asylverfahren und damit zu weniger Gerichtsverfahren beitragen. Auch wurde nun endlich die Praxis abgeschafft,  wonach das BAMF alle drei Jahre in einer aufwendigen Regelüberprüfung alle positiven Asylbescheide auf möglichen Wegfall von Schutzgründen prüfen muss. Widerrufsverfahren sollen nun nur noch anlassbezogen durchgeführt werden, wodurch wertvolle Kapazitäten frei werden und anerkannte Flüchtlinge nicht mehr in ständiger Unsicherheit leben müssen.

Anmerkungen
1 BAMF, Oktober 2022: Aktuelle Zahlen, S.13
2 Name geändert
3 Webseite des Sächsischen Flüchtlingsrats, Pressemitteilung vom 8.2.2022
4 Mit einer Vorgriffsregelung zum Chancen-Aufenthaltsrecht kann ein Bundesland seine Ausländerbehörden anweisen, dass Personen, die von der künftigen bundesgesetzlichen Regelung profitieren, nicht mehr abgeschoben werden. Zehn Länder haben das getan, MV, SN, ST, BY, BE und HH nicht.
5 PRO ASYL – Webseite, https://www.proasyl.de/news/dieses-gesetz-wird-die-asylverfahren-nicht-beschleunigen-sondern-verzoegern/

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Hintergrund
Fiene Wolf, studierte Ethnologin, arbeitet seit 2020 bei der Menschenrechtsorganisation PRO ASYL in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Zuvor hatte sie einige Jahre lang Geflüchtete in einer Landeserstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in ihren Asyl- und Dublinverfahren unterstützt und beraten.