Enttäuschend versus beängstigend

Die neuen Versammlungsgesetze in Berlin und NRW

von Michèle Winkler
Hintergrund
Hintergrund

Am 28. Februar 2021 trat in Berlin das Versammlungsfreiheitsgesetz der regierenden rot-rot-grünen Koalition in Kraft. Sie bewirbt es als ein Gesetz, das als „deutschlandweites Vorbild für ein demokratieförderndes und grundrechtsbezogenes Versammlungsrecht dienen soll“. Der Anspruch, ein modernes Versammlungsfreiheitsgesetz festzuschreiben, das insbesondere die umfangreiche Rechtsprechung zusammenführt, ist begrüßenswert. Allerdings weist der Entwurf Inhalte als Fortschritt aus, die längst geltende Rechtsprechung sind.

Die Übernahme versammlungsrechtlicher Mindeststandards ins Landesrecht, etwa das Deeskalations- und Kooperationsgebot oder der ungehinderte Zugang zu Versammlungen, ist noch keine Demokratieförderung. Auch damit, dass die Zuständigkeit von Versammlungsbehörde und Polizei weiterhin zusammen fällt, ist aus versammlungsfreundlicher Sicht ein Versäumnis. Der Zielkonflikt von staatsfreier Ausübung der Versammlungsfreiheit und der polizeilichen Aufgabe der Gefahrenabwehr lässt sich nicht zufriedenstellend auflösen – die Polizei gewährt regelmäßig der Gefahrenabwehr den Vorrang, zulasten der Versammlungsfreiheit.

Zudem wurden die Befugnisse der Berliner Polizei im Versammlungsgeschehen stark ausweitet: Das Polizeirecht wurde grundsätzlich für anwendbar erklärt – somit der Grundsatz der Polizeifestigkeit aufgehoben. Auch die Untersagung der Teilnahme, der Ausschluss von Versammlungen, Durchsuchungen und Identitätsfeststellungen werden durch das Versammlungsgesetz ermöglicht. Auch die Neuregelungen zu Waffen-, Uniformierungs- und Vermummungsverboten legen mit einem Anordnungsvorbehalt den Gestaltungsspielraum in die Hände der Polizei, die nun schon im Vorfeld pauschal einschränkende Anordnungen treffen kann. Da die Nichtbefolgung dieser Anordnungen unter Strafe gestellt ist, kann die Polizei Berlin bestimmen, was bei Versammlungen zur Straftat wird. Immerhin stellt die Neuregelung nun nur noch das „Verwenden“, nicht mehr das „Mitführen“ von Vermummungsmaterial unter Strafe. Progressiv wäre allein die Aufhebung des Vermummungsverbots gewesen. Zusammenfassend lässt sich sagen, das Berliner Gesetz wird dem selbst gesetzten, freiheitlichen Anspruch nicht gerecht.

Nordrhein-Westfalen
Mit dieser Kritik im Kopf blicken wir nach Nordrhein-Westfalen. Denn dort hat die schwarz-gelbe Landesregierung im Windschatten der Corona-Epidemie einen Entwurf für ein Landesversammlungsgesetz vorgelegt, das das Grundrecht, sich frei zu versammeln, in seinem Wesen zunichtemachen würde. Das Gesetz kann als autoritärer Gegenentwurf zum Berliner Versammlungsgesetz verstanden werden. Tritt es wie vorgeschlagen in Kraft, würden die zentralen Leitlinien der Versammlungsfreiheit, wie sie seit dem Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts bestehen, nicht mehr greifen: die Autonomie in der Gestaltung der Versammlung, die Staatsfreiheit, der freie Zugang zu Versammlungen und die Abwesenheit von Observation und Registrierung.

Der Begründungstext für das Gesetz zeigt eine Verachtung demokratischer Teilhabe in politischen Entscheidungsbildungsprozessen. So heißt es u.a., „das Grundgesetz habe plebiszitäre Formen unmittelbarer Demokratie ganz bewusst nur für wenige, eng begrenzte Ausnahmefälle zugelassen. Der [Brokdorf-]Beschluss lasse eine Unterscheidung zwischen Staatswillensbildung und Volkswillensbildung vermissen“. Dass die Einmischung der Bevölkerung in politische Belange im Braunkohleland NRW für Unmut sorgt, wird mehr als deutlich. Insbesondere zivil ungehorsame Akteure der Klimabewegung sollen durch das Gesetz ihrer Interventionsmöglichkeiten beraubt werden. Versammlungen in der Nähe von Kohleabbaugebieten sollen verboten werden, die weißen Maleranzüge von „Ende Gelände“ gelten künftig als verbotene Uniformierung. Auch antifaschistischer Protest wird weitgehend verunmöglicht: Sämtliche Störungen werden kriminalisiert. Dazu gehören Blockaden ebenso wie der Aufruf zu diesen oder Blockadetrainings. Das Recht auf Gegenprotest in Hör- und Sichtweite wird verneint.

Im Gegensatz zur Regierung in Berlin, die den Schutzauftrag des Versammlungsgesetzes für die Versammlungsfreiheit explizit ausformuliert hat, versteht die Regierung unter Armin Laschet ihren Gesetzesentwurf nicht als Beitrag zur Grundrechtsausübung, sondern „als weiteren Schritt zur Fortentwicklung des Eingriffs- und Sicherheitsrechts in Nordrhein-Westfalen“. Entsprechend sieht es noch deutlich weitreichendere Regulierungs- und Überwachungsmöglichkeiten für die Polizei vor: die Anwendbarkeit sämtlicher Mittel des Polizeirechts in Versammlungen, die nahezu voraussetzungslose Errichtung von Kontrollstellen zur Identitätsfeststellung und Durchsuchung, das Verbot der Teilnahme mithilfe von Meldeauflagen, den Ausschluss von Versammlungsteilnehmer*innen, Gefährderansprachen auf dem Weg zu Versammlungen, die Videoüberwachung und -aufzeichnung von Versammlungen und weitere.

Bei aller Kritik am enttäuschenden Berliner Versammlungsgesetz, muss dieses nun als Positivbeispiel in Abgrenzung zum undemokratischen, obrigkeitsstaatlichen Entwurf aus NRW gelten.

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Hintergrund
Michèle Winkler ist Referentin der Geschäftsstelle des Komitees für Grundrechte und Demokratie mit den Schwerpunkten Versammlungsrecht, Polizei und Innere Sicherheit. Sie hat bei der ersten Aktion von „Ende Gelände“ 2015 teilgenommen und engagiert sich in der Klimagerechtigkeitsbewegung.