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- ein Praxisbericht
Die Ortserkundung in der Friedenserziehung
vonIm Rahmen einer regionalen LehrerInnen-Fortbildung über "Friedenserziehung im Unterricht" mit TeilnehmerInnen aus den unterschiedlichsten Schulformen fand am 16.10.91 in Köln ein Projekttag zum Thema "Friedensfähigkeit in einer multikulturellen Gesellschaft: Sinti und Roma, Asylbewerber" statt, in dessen Verlauf die 22 TeilnehmerInnen eigene praktische Erfahrungen mit der Methode der Ortserkundung machten.
Die Moderatoren der Fortbildungsveranstaltung hatten vorab für 6 Arbeitsgruppen Besuchs- und Befragungstermine bei den folgenden Einrichtungen bzw. Initiativen und Parteien vereinbart:
- Kölner Flüchtlingsrat / Caritas-Asylberatung
- Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber / ein Rechtsanwalt, der Asylbewerber vertritt
- Wohnheim bzw. Schiff mit Asylbewerbern
- Roma-Initiative / Parteienvertreter: Die GRÜNEN
- Parteienvertreter: CDU- bzw. FDP Ratsfraktion
- Parteienvertreter: SPD-Ratsfraktion / Straßeninterviews mit BürgerInnen im Umfeld von Asylbewerber-Unterkünften
Die Zusammenstellung der zu erkundenden Orte läßt bereits die Zielsetzung der Methode Ortserkundung deutlich werden:
Durch direkte Befragung und Beobachtung vor Ort sollen Informationen und ganzheitliche Eindrücke gesammelt werden, deren spätere Auswertung ein multiperspektivisches Bild eines gesellschaftlichen Problems ergibt.
Während die Planungsphase im schulischen Alltag von SchülerInnen und LehrerInnen gemeinsam getragen werden muß ("Festlegung und Verteilung der Arbeitsschritte und Verantwortlichkeiten ... Bestimmung der Methoden / Techniken der Erkundung ...") 1) wurde sie in unserem Fall aus Zeitgründen von den beiden Moderatoren vorbereitet. So trafen sich die Fortbildungs--TeilnehmerInnen nur zu einem kurzen Treff im Allerweltshaus in Köln-Ehrenfeld, um nach Aufteilung der Gruppen und Absprache über die Form der Dokumentation der Ergebnisse zu den Erkundungsorten zu fahren.
Die Erkundung selbst nahm den Vormittag in Anspruch. Am frühen Nachmittag trafen wir uns wieder im Allerweltshaus zur Erarbeitung der Dokumentationsinhalte mit Hilfe von Wand-zeitungen. Der Nachmittag wurde schließlich zur gegenseitigen Vorstellung der Erkundungsergebnisse benutzt. An diesem Gespräch nahmen auch zwei iranische MitarbeiterInnen des Allerweltshaus teil, die selber Asylbewerber gewesen waren.
Verständlicherweise kann im Rahmen dieses Artikels nicht die Fülle der von 6 Gruppen zusammengetragenen Informationen dargestellt werden. Daher sollen im Folgenden nur die wichtigsten Eindrücke sowie die sich aus der multiperspektivischen Herangehensweise er-gebenden Widersprüche genannt werden.
Einen großen Raum bei der Berichterstattung nahm die Schilderung der Lebenssituation in Asylbewerber-Unterkünften ein (Gruppe 3), weil dabei sowohl die deutlich unzureichenden Lebensumstände als auch die vielfältigen Hintergründe für das Verlassen des Heimatlandes deutlich wurden, die bei den BerichterstatterInnen einen nachhaltigen emotionalen Eindruck hinterließen. Darüber hinaus waren die erkundenden KollegInnen von der Arbeit der deutschen HelferInnen und deren Engagement beeindruckt.
Für die Gruppe 2 erwies sich der Kontrast zwischen einer Befragung des Leiters der Zentralen Anlaufstelle und derjenigen eines Asylbewerber vertretenden Rechtsanwaltes als sehr aufschlußreich in der Hinsicht, daß sich die jeweilige Interessenslage nicht nur in unterschiedlichen Informationen, sondern auch einem konträren gefühlsmäßigen Engagement ausdrückte.
Die von der Gruppe referierte Darstellung des gegenwärtigen Anerkennungsverfahrens durch den Leiter der zentralen Anlaufstelle fair und effizient konnte in diesem Zusammenhang durch Teil-nehmer kontrastiert werden, die einen Mitarbeiter der Partei DIE GRÜNEN interviewt hatten. Aus diesem Gespräch hatte sich ergeben, daß ungefähr genauso viele Asylbewerber nach ihrer Ablehnung durch die zentrale Anlaufstelle später durch ein Gerichtsverfahren als Asylanten rechtswirksam anerkannt werden wie beim ersten Durchgang von ihr anerkannt werden.
Die aus mehreren Gruppen zusammengetragenen Informationen ergaben ein umfassendes Bild über den Verbleib von abgewiesenen Asylbewerbern in Deutschland.
Schließlich empfanden alle TeilnehmerInnen die in Kassetten-Aufnahmen dokumentierten Äußerungen von Straßenpassanten und Steh-Kaffee-Besuchern wegen der in ihnen zum Ausdruck kommenden Vorurteile, des geringen Problembewußtseins und der deutlichen Aggressivität erschreckend.
In der am nächsten Fortbildungstag stattfindenden Abschlußbewertung der Ergebnisse und Reflexion über die Anwendbarkeit der Methode in der Schule herrschte Einigkeit unter den TeilnehmerInnen, daß die Ortserkundung über den textbearbeiteten Unterricht hinaus weit intensivere Eindrücke und wegen der Multiperspektivität auch bessere Einsichten ermögliche. Vor allem die ganzheitliche Wahrnehmung von Entscheidungsträgern (Politiker, Verwaltungsbeamte etc.) wurde als Vorteil gegenüber der Rezeption gedruckt vorliegender Statements gewertet. Für einige TeilnehmerInnen blieb jedoch die Frage offen, ob die von allen berichtete emotionale Betroffenheit durch die direkte Begegnung mit Menschen in einem sozialen Konfliktfeld wirklich zu einer rationalen Konfliktlösung beiträgt.
Den deutlichen Vorteilen der Methode der Ortserkundung hinsichtlich Umfang der gesammelten Informationen und Intensität der Erlebnisse (die auch weitaus stärker eine Handlungsmotivation bei SchülerInnen hervorrufen dürften, als es der herkömmliche Politikunterricht kann), stehen die Schwierigkeiten bei der Durchführung in der "normalen" Schulsituation gegenüber. Da hier der Politikunterricht zumeist nur einstündig ist und von der Planung bis zur Auswertung eine Ortserkundung Wochen dauern würde, müßten Formen der fächerübergreifenden Zusammenarbeit entwickelt werden, die z. B. die Erarbeitung von Interviewtechniken in den Deutschunterricht verlegen könnte.
1) F.J.E. Becker, Erkundung und Befragung als Methode der politischen Bildung, in: Erfahrungsorientierte Methoden der politischen Bildung. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Bd. 258, Bonn 1988, S. 97 - 132.