Marienbad Dezember 1989

Ein gewendeter Friedensdialog

von Rüdiger Schlaga

Als ich mich Anfang Oktober zur Teilnahme am 4. Marienbader Dialog der Friedensbewegungen der BRD und der CSSR angemeldet hatte, rechnete ich eigentlich mit einer Routineveranstaltung, so wie ich sie bereits die Jahre zuvor erlebt hatte. Doch der Sturm der Demokratisierung in Zentral- und Osteuropa hatte schließlich auch die Tschechoslowakei erreicht und die alten Stalinisten in der KP-Führung genauso wie die im Friedenskomitee weggeweht.

 

So fahre ich, nachdem ich bereits drei aufregende, mit Gesprächen und Eindrücken gefüllte Tage in Prag verbracht hatte, am 1. Dezember gespannt nach Marianske Lazne.

Etwa hundert Friedensbewegte aus der Bundesrepublik sowie sechzig aus der CSSR, meist aus dem Umfeld des Friedenskomitees und des inzwischen gewendeten Sozialistischen Jugendverbandes (SSM) nehmen an dem Dialog teil. Erstmals sind auch offiziell eingeladene Vertreter der Unabhängigen Friedensassoziation und der Charta '77 gekommen.

Es wird in Gruppen gearbeitet. Die erste behandelt "konventionelle Abrüstung": Rüstungskonversion, die Veränderung der Sicherheitsstrukturen und mehr "Glasnost beim Militär". Die Teilnehmer stellen u.a. folgende Forderungen: Konversion nicht nur in der Rüstungsindustrie sondern auch im politischen Denken; Abzug aller Truppen von fremden Territorien; sofortiger Stopp aller Rüstungsexporte - die Tschechoslowakei hat am 25. Januar 1990 ihre gesamten Rüstungsexporte eingestellt!

Die zweite Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit "Ökologie und Friedensbewegung": vorwiegend werden Informationen über die schwerwiegenden Umweltschäden in der CSSR ausgetauscht. Es gelte nun, die Chance zur grenzübergreifenden Kooperation zu nutzen. Partner für die bundesdeutschen Öko- und Friedensbewegungen gibt es auch in der CSSR: vor allem die Sektionen von Greenpeace und "Brontosaurus".

Die dritte Arbeitsgruppe diskutiert "Humanitäre Fragen": es geht um Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht. Das·Friedenskomitee wird aufgefordert, seine Haltung zur KDV noch einmal zu überdenken. Denn:

Anfang November noch hatte es einen Gesetzentwurf eingebracht, in dem es freiwillig einen um sechs Monate verlängerten Zivildienst vorschlug. Im Übrigen: Vaclav Havel, Ex-Dissident und neuer Staatspräsident, kann sich "die Tschechoslowakei sehr gut ohne Militär vorstellen"!

Die vierte Arbeitsgruppe schließlich widmet sich den "Prioritäten der Friedensbewegung im Rahmen des KSZE-Prozesses": Vorrangig geht es um die Kontroverse, ob Abrüstung Priorität der Friedensbewegung zu sein habe oder ob nicht vielmehr im Sinne eines "erweiterten Friedensbegriffes" die ökologischen und ökonomischen Menschheitsbedrohungen Vorrang hätten. Auch das Verhältnis von Basisbewegungen und Parteien wird diskutiert. Die Parteipolitiker von SPD, den Grünen wie auch der tschechoslowakischen Volks- und Sozialistischen Partei können hierzu nichts erhellendes beitragen. Anna Harmanova dagegen, eine der Sprecherinnen der tschechoslowakischen "Unabhängigen Friedensassoziation" (NMS), beschreibt in einem Beitrag die Position von NMS. Ausgangspunkt sei, daß nach wie vor äußerer und innerer Friede komplementär seien. Nur Staaten, die die Menschenrechte achteten, seien auch Garanten eines zwischenstaatlichen Friedens. Sicher sei es notwendig, weiterhin Abrüstung zu fordern. Doch die eigentlichen Bedrohungen seien die Umweltzerstörung und die wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Asymmetrien zwischen Ost und West und Nord und Süd. Schließlich betont Anna Harmanova die Notwendigkeit, die Gesellschaften grundlegend zu demilitarisieren sowie neue Werte in der Politik zu entfalten: Humanität, Moral, Ethik sind einige ihrer Stichworte. Es gehe nicht um Machtübernahme an sich, sondern darum, die Macht des Staates und der Parteien gegenüber den Bürgern zurückzudrängen und eine zivilistische Gesellschaft aufzubauen. Dies sind Ziele, denen die neue Tschechoslowakei gewiß näher steht als die westlichen Demokratien.

Der Samstagnachmittag bringt einen der Höhepunkte des Marienbader Treffens. Die Veranstalter vom Friedenskomitee haben Vertreter der streikenden Studenten aus Prag eingeladen. Fast vier Stunden hören die Dialogteilnehmer aus der Bundesrepublik und der Tschechoslowakei gespannt zu, als Vlasta Jezek und Pavia Milcova, beides Studenten der Prager Philosophischen Fakultät, über die politischen Entwicklungen im Lande seit dem 17. November berichten. Dieser Freitag war zum Fanal für das alte Regime geworden. "Anti"-Terroreinheiten von Polizei und des Innenministeriums hatten mit blutigem Terror versucht, eine studentische Demonstration in Prag zu zerschlagen. Doch der Einsatz brachte letztlich das Faß der studentischen Unzufriedenheit zum Überlaufen. Der latente Unmut an den Universitäten und bei den Jugendlichen der Tschechoslowakei schlug in offenen Widerstand um.

Die Schulen und Universitäten wurden von ihren Studenten besetzt und bestreikt. Von dem Tag an war der bisherige Unterricht ausgesetzt, stattdessen rückte der Sturz der Diktatur auf den Lehrplan. Die Studenten wurden zu einem der wichtigsten Katalysatoren für die neue Opposition, die sich im Bürgerforum zusammenschloß.

Im Gegensatz zu früheren sind die Diskussionen dieses 4. Dialoges erfreulich offen und konstruktiv. Allerdings, denke ich, müssen nicht zuletzt die bundesdeutschen langjährigen Bündnispartner der osteuropäischen Altstalinisten noch einiges an ihrem Denken und Handeln reflektieren, wollen sie sich nicht dem Verdacht eines "wendehälsischen" Opportunismus aussetzen. Zumindest in Marienbad drängte er sich immer wieder auf.

Am Sonntagnachmittag, nach Abschluß des Dialogs, verlasse ich Marienbad und fahre nach·Hause. Mein Kopf schwirrt von den vielfältigen Eindrücken. Die Aufregungen der letzten Tage klingen nach. Die Veranstaltung war ein Erfolg für den Ost-West-Bürgerdialog, die Entspannungspolitik von unten. Mal sehen, ob es eine Fortsetzung in Marienbad 1990 geben wird.

Rüdiger Schlaga, Friedensforscher und Journalist, ist Presse- und Öffentlichkeitsreferent der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt.

 

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Rüdiger Schlaga ist Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Kon¬fliktforschung in Frank¬furt