Eindrücke von der DDR-Opposition

von Henning Schierholz

Am 24. und 25. Oktober besuchte eine Delegation bundesdeutscher Friedensor­ganisationen auf Einladung der Friedensbewegung der DDR Ost-Berlin. Einige VertreterInnen (KA, DFG-VK, IFIAS, Darmstädter Signal, Krefelder Initiative) führten am Rande eine Reihe sehr interessanter Gespräche mit kirchlichen, al­ternativen und oppositionellen Gruppen.

Umbau des RGW statt "nachholende Industrialisierung"
Mit Mitgliedern der Theologischen Studienabteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR diskutierten wir einen Abend schwer­punktmäßig zu Fragen und Problemen der gesamteuropäischen Entwicklung. Dabei wurde deutlich, daß die poli­tisch-sozialwissenschaftliche Diskus­sion in den einschlägigen Fachkreisen der DDR sich momentan sehr stark auf Fragen der Ökonomie (sowohl in­ternational wie national) als auch auf solche des Verhältnisses von West- und Osteuropa konzentriert. Ausge­rechnet von kirchlichen Kräften wird zunehmend die Frage nach Möglich­keiten einer Rekonstruktion bzw. eines Umbaus des RGW gestellt, da man das Konzept der "nachholenden Indu­strialisierung" gegenüber dem Westen ablehnt. Auf offizieller Seite wird zwar nach wie vor der ungarische und pol­nische ökonomische Weg außeror­dentlich skeptisch betrachtet, dennoch aber eine engere Anlehnung an die Strukturen der EG nachdrücklich be­fürwortet (mehr Markt, Flexibilität, Wettbewerbsfähigkeit, Integration in den Weltmarkt sind auf der DDR-brain-trust-Ebene zwischenzeitlich be­reits die Stichworte).

Wir haben auch über Genschers "Europa-Plan" diskutiert und dazu weitere Vertiefung verabredet; Einig­keit bestand in der Skepsis, wenn die­ser darauf hinausläuft, Ungarn, Polen, die CSSR und die DDR langfristig in die EG einzubinden, die Sowjetunion aber außen vorzuhalten.

Grüne in der DDR
Sowohl in mehreren informellen Ge­sprächen als auch im Rahmen der Runde mit allen Reform- und Opposi­tionsgruppen wurde die Rolle des grü­nen Faktors in der DDR-Reform- und Oppositionsbewegung thematisiert und beleuchtet. Innerhalb des Neuen Forums hat sich eine "Grüne Liste" gebildet, die weitgehend aus Mitar­beitern und Mitgliedern des grünen Netzwerkes "Arche" in der Evangeli­schen Kirche der DDR besteht. Deut­lich wurde, daß im Falle einer grünen Parteigründung, zu der am 5. Novem­ber in Berlin-Treptow eine Initiativ­gruppe ins Leben gerufen worden ist, das bisher ganz gut funktionierende grüne Netzwerk Arche zu paralysieren droht. Innerhalb der Arche fühlen sich die Mitarbeiter bereits jetzt unter­schiedlichen Reformgruppen (vornehmlich Demokratischer Auf­bruch und Neues Forum) zugehörig; eine grüne Parteigründung dürfte nur eine kleine Bruchteil derjenigen Inter­essenten erreiche, die gegenwärtig in der DDR an einer Veränderung auch der ökologischen Situation (sei es im Rahmen von Arche oder im Rahmen einer "Grünen Liste im Neuen Forum") erreicht werden könnte.

Breiter Grundkonsens
Die Gesprächsrunde mit Vertretern des Neuen Forum, von Demokrati­schem Aufbruch sowie Mitgliedern des Fortsetzungsausschusses "Frieden konkret" in den Evangelischen Kirchen der DDR (ein Vertreter der SDP konnte leider nur kurzfristig anwesend sein) ergab, daß hinsichtlich der weite­ren taktischen und strategischen Vor­gehensweise innerhalb der verschie­denen Gruppen zwar ein breiter Grundkonsens vorhanden ist, auf der anderen Seite aber auch erhebliche Unterschiede bestehen. Ein gemein­samer Zeitrahmen (der etwa den ge­planten zwölften Parteitag der SED im Mai 1990 berücksichtigt) ist nicht vor­handen, hinsichtlich der Frage Partei und/oder Bürgerinitiative (einschließlich der Frage nach Stel­lenwert und Priorität der Volkskam­merwahlen 1991 und/oder einer Wie­derholung der Kommunalwahlen vom Mai 1989) bestehen unterschiedliche Einschätzungen. Insbesondere ist um­stritten, inwieweit der in Artikel 1 der DDR-Verfassung festgelegte Charak­ter des Staates und die Führungsrolle der Partei mit welchen Mitteln (Volksabstimmung?) politisch ange­griffen werden soll oder kann bzw. welche Priorität dieser Punkt hat. Ob ein Sofortprogramm zur Überwindung der Krise von allen Gruppen entwic­kelt werden kann, ist gegenwärtig um­stritten.

Ein Vertreter der "Initiative Frieden und Menschenrechte", die ja den An­stoß zur Bildung unabhängiger Verei­nigungen und Gruppierungen in der DDR gegeben hat, warnte vor der Gefahr der Zersplitterung der Re­form- und Oppositionsgruppen. Ich habe mich voll der Einschätzung ange­schlossen, daß im Apparat gegenwärtig "Kreidefresser" und "echte Reformer" in Konkurrenz zueinander stehen und daß es seitens der Alternativgruppen jetzt nicht darauf ankomme, sich im Rahmen des flexibleren "teile und herrsche" wieder weich kochen zu las­sen, sondern in diese Konkurrenz pro­duktiv einzugreifen.

 

 

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