Grenzenlose Einsätze der Bundeswehr?

Eine Intervention der ami-Redaktion

1. Mit dem folgenden Beitrag möchten wir in die Auseinandersetzung über deutsche Beteiligungen an militärischen In­terventionen eingreifen. Wir möchten begründen, warum Menschen, die in der generellen. Beurteilung eines radikalen ("absoluten", "prinzipiellen") Pazifis­mus uneinig sind, dennoch gemeinsam gegen jegliche Militarisierung der Machtpolitik des eigenen Landes argumentieren können. Weil wir selber außerstande sind, eine redaktionelle Übereinstimmung in der ersten Auseinandersetzung zu erzielen (einige stimmen in dieser Frage mit sich selbst nicht überein), verzichten wir auf einen Beitrag zum Thema "Intervention an und für sich". In der Beurteilung der neuen Aufgaben der Bundeswehr jedoch sind wir uns hinreichend einig, um gegen "Friedensforscher" wie Harald Müller und die drei etablierten Institute HSFK, ISFH und FEST, die für   deutsche Militäreinsätze unter der Schirmherrschaft der Vereinten Natio­nen werben, eine friedenspolitische Frontstellung einzunehmen. Die Vor­schläge dieser Wissensehaftlerlnnen verfehlen den Sinn von Friedensfor­schung.

 

2. Erstmals nach 1945 sollen deutsche Soldaten weltweit an Kriegen teilnehmen dürfen: Spätestens mit dem logisti­schen Einsatz von Bodentruppen der Bundeswehr in Somalia ist die Grenze zu Kampfeinsätzen "out of area'' de facto überschritten. Mit einer Politik des gezielten aber wohldosierten Verfassungsbruches, unter dem Vorwand hu­manitärer Notwendigkeiten im Dienste an Kriegsopfern, ist es der Bundesregie­rung gelungen, unter der Schwelle einer Grundgesetzänderung gleichsam hin­durchzukriechen: Eine Zweidrittelmehr­heit im Bundestag bräuchte nur noch die Fakten zu ratifizieren, die die Bonner Koalition geschaffen hat.

An dem Vorgang des erfolgreichen Auf­scheuerns außenpolitischer Fesseln erstaunt und erschreckt uns nicht zuletzt die fast vollständige Abwesenheit einer vernehmbaren Opposition.

Eine Ursache dafür erblicken wir in der Bereitschaft vieler ehemaliger Parteigängerlnnen der Friedensbewegung und bekannter Friedensforscher, Einsätzen der Bundeswehr außerhalb des NATO­-Gebietes im Grundsatz zuzustimmen und sich nur in vergleichsweise nebensächlichen Fragen verfassungsrechtlicher, parlamentarisch-prozeduraler und UN-formalistischer Art oppositionell zu profilieren. Insbesondere manövrierte die Konzentration von Teilen der Frie­densbewegung auf die Verfassungsver­träglichkeit weltweiter Militäreinsätze die antimilitaristische Argumentation in eine unnötige Abhängigkeit von den Urteilen der rotgewandeten Richter in Karlsruhe und lenkte von der politischen Brisanz der Angelegenheit eher ab.  

 

3. Für die Bereitschaft "kritischer" Menschen, sich von der Bundesregierung die Richtung und die Perspektiven einer un­heilvollen Diskussion vorgeben zu lassen, sehen wir vor allem zwei Gründe: den diskreten Charme der Vereinten Nationen (a) und das Entsetzen ange­sichts unfaßbarer Bürgerkriegsbrutali­täten im ehemaligen Jugoslawien und in Somalia (b). Mit beiden Motiven wollen wir uns im Folgenden befassen.

(a) Die Hoffnung auf eine Durchsetzung und Stärkung von „Systemen kollektiver Sicherheit" gründet tief in der philoso­phischen Tradition der Aufklärung. Das derzeit einzige System dieser Art bilden die Vereinten Nationen, die bei aller Kritik häufig als Keimzelle einer besse­ren, rechtsförmig "befriedeten" Welt­ordnung angesehen werden. Unabhängig von konkreteren   Zwecken halten viele Menschen, die an einer Überwindung des "Naturzustandes" in der Staatenwelt interessiert sind, eine Stärkung der UNO für ein sinnvolles Ziel, dem sich gerade die Bundesrepublik nicht verweigern dürfe. Eine offen interessenzentrierte Begründung außenpolitischer Militarisierungs­bestrebungen, wie sie die Führung der Bundeswehr in dem berühmten Stolten­berg-Papier vom Januar '92 und in den "Verteidigungspolitischen Richtlinien" vom November letzten Jahres gibt, stößt selbstverständlich auf die einhellige Ablehnung der Linken und Linkslibe­ralen: Zu offensichtlich ist der partiku­lare Zweck. Eine universalistische Rechtfertigung der gleichen Absichten, beglaubigt durch die Charta der Ver­einten Nationen, war jedoch geeignet, Friedensforscherlnnen und Bürgerbe­wegte zu betören. Dieselbe Bundeswehr, der in dem Stoltenberg-Papier indirekt die "Aufrechterhaltung des freien  Welt­handels und des Zugangs zu strategi­schen Rohstoffen" als zukünftige Auf­gabe anempfohlen wird, soll für das Gute und gegen das Böse in der Welt schlechterdings überall ihre Waffen ge­brauchen können - und um sicherzuge­hen, daß die Zwecke auch wirklich gut sind, sollen einzig die Vereinten Natio­nen über die Legitimität solcher Einsätze befinden dürfen.

Freilich handelt es sich um kritische Freunde der Weltorganisation. Daher fehlt in kaum einem Plädoyer für eine Bundeswehr-Beteiligung an UNO-Ein­sätzen   eine Fußnote zur Reformbedürf­tigkeit dieser Dachorganisation der Staatenwelt. Doch nicht die Vorbehalte zählen in der gegenwärtigen Diskussion, sondern allein die Haltung zu "out of area“-Einsätzen der Bundeswehr. Denn während die Reform der UNO allenfalls als langfristiges Projekt mit un­bekannten realpolitischen Adressaten eine Rolle spielen könnte, werden die Weichen für weltweite Kampfeinsätze der Bundeswehr jetzt gestellt.

Nicht besser ist es bei näherem Hinse­hen um die  Einschränkung von Bundeswehr-Einsätzen auf Blauhelme be­stellt. Blauhelme haben - teilweise zu Recht - bislang einen guten Ruf, den sich die Freunde grenzenloser Militäreinsätze zunutze machen. Sie können sich dabei auf die Unklarheiten in der Konzeption solcher Einheiten stützen. Weil "peace-keeping-Missionen" in der Charta der Vereinten Nationen nicht er­wähnt sind, basiert ihre Ausgestaltung allein auf Gewohnheitsrecht. Deeskalie­rend können Blauhelme nur wirken,   wenn ihr Einsatz auf einer Überein­stimmung aller beteiligten Parteien be­ruht   und wenn  die Soldaten ausschließ­lich zur Selbstverteidigung bewaffnet sind. Dieser restriktive Rahmen ist bei­spielsweise im ehemaligen Jugoslawien und in Kambodscha mehrfach über­schritten worden. Die Trennlinie zwischen friedenserhaltenden und "friedenserzwingenden" Militäraktionen der Weltorganisation ist also nicht so klar gezogen, wie viele Befürworterln­nen von Blauhelm-Einsätzen der Bun­deswehr suggerieren. Die Fürsprecher einer Beteiligung der deutschen Armee auch an Kampfeinsätzen machen sich diese konzeptionelle und praktische Un­schärfe zunutze. Anstatt jedoch die Grenze zwischen "peace-keeping"- Ein­sätzen und regelrechten Kriegen voll­ends einzureißen, was nicht zuletzt die sinnvollen Deeskalationsleistungen der Blauhelme zusätzlich erschweren würde, wäre es vernünftiger, deren Ein­sätze im restriktivsten Sinne in der UN­-Charta zu verankern.

Selbst dann wäre jedoch eine Beteili­gung von Soldaten der Bundeswehr an "friedenserhaltenden" UN-Missionen nicht notwendig. Dagegen sprechen unseres Erachtens zwei Gründe: Erstens stünde im Falle einer Beteiligung von Großmacht-Verbänden die deeskalie­rende Wirkung von Blauhelm-Einsätzen in Frage - und die Bundesrepublik ist de facto eine Großmacht, deren Soldaten aus historischen Gründen ohnehin in weiten Teilen der Welt nicht gerade als Friedensbringer begrüßt werden dürften. Zweitens halten wir es für erforderlich, perspektivisch die Umsetzung von UN­-Mandaten durch Angehörige von natio­nalen Armeen oder Militärbündnissen auszuschließen.

Zum einen nämlich besteht bei einer Beteiligung nationaler Einheiten immer die Gefahr einer eskalationsträchtigen Vermengung staatlicher Machtpolitik mit überstaatlichen Angelegenheiten. Zum anderen halten wir es unter friedenspolitischen Gesichtspunkten für kontraproduktiv, wenn sich Armeen unter dem Deckmantel der Weltorgani­sation neues Ansehen und scheinbare Legitimationen für ihren Fortbestand verschaffen.

(b) Im Falle des Bürgerkriegs im ehe­maligen Jugoslawien ist (fast) allen po­litischen Akteuren bewußt, daß deutsche Truppen auf dem Balkan nur unnötig polarisierend und eskalierend wirken würden. Dies hat sogar der wg. Spätgeburt Begnadete zugegeben, als er deut­sche Bodentruppen in Bosnien katego­risch ausschloß.

Es darf daher vermutet werden, daß die Diskussion um eine deutsche militärische Intervention in Ex-Jugoslawien, zumindest von einem bestimmenden Teil der an ihr Beteiligten aus ganz an­deren Gründen geführt wird: das Drama des Bürgerkrieges in Bosnien wird be­wußt genutzt, um die öffentliche Ak­zeptanz für eine Ausweitung des Ein­satzgebietes der Bundeswehr zu schaffen. Das unendliche Leid der Bevölke­rung in Bosnien, das tagtäglich live und in Farbe in die Wohnzimmer der deut­schen Öffentlichkeit transportiert wird, weckt selbstverständlich das (zunächst diffuse) Bedürfnis, daß irgendetwas getan werden muß, um dieses Leid, wenn schon nicht zu stoppen, so doch wenig­stens zu vermindern.

Noch offensichtlicher wird die perfide Taktik der Regierung, das konkrete Leid von Menschen in Kriegssituationen für eine Ausweitung des militärischen Handlungsspielraumes zu instrumentali­sieren, am Beispiel des Einsatzes in Somalia. Die .Bilder von verhungernden Menschen, während jugendliche Rambos mit Maschinengewehren die Straßen kontrollieren, dienten in der Weih­nachtszeit schon zur Rechtfertigung der US-amerikanischen Intervention am Horn von Afrika.

Wenn auch mit ziemlicher Verspätung, wollte die Bundesregierung auf dieser Mitleidswelle mitreiten: schnell wurde an der UN-Resolution zum Somalia­Einsatz noch ein bißchen mitgebastelt, damit sie den deutschen Wünschen auch gerecht wird, und Boutros-Ghali wurden schon im Dezember 1.500 deutsche Blauhelme zugesagt auch ohne "verfassungsrechtliche Klarstellung".

Aber alles sollte die Bundeswehr denn doch nicht machen dürfen: zu humanitär sollle es bitte schön nicht sein (eine deutsche Beteiligung am Entladen und Verteilen der Hilfsgüter im Hafen von Mogadischu wurde von Volker Rühe abgelehnt), zu militärisch auch nicht (nur in "befriedeten" Gebieten sollte der Einsatz stattfinden). Also am besten ir­gendetwas in der Mitte, z.B. Brunnen bohren und Brücken bauen (humanitär) und Waffen transportieren (natürlich nur zu Selbstverteidigungszwecken, aber immerhin eindeutig militärisch).

Selbst unabhängig von grundsätzlichen Einwänden ist die Mission der Bundes­wehr in Somalia sinnlos. Es ginge jetzt darum, die Infrastruktur des Landes wieder aufzubauen, um die materiellen Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden zu schaffen. Eine Armee, die 40 Jahre lang trainiert hat, Brücken zu zerstören und Brunnen zu vergiften, mit diesen Aufgaben zu betreuen, ist zumindest zum jetzigen Zeitpunkt abstrus.

Im Falle Somalia wie im Fall des Krieges im ehemaligen Jugoslawien se­hen wir uns mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert: wir können uns zwar mit den offiziell deklarierten Zielen einer (möglichen) militärischen Intervention identifizieren, lehnen aber das Mittel des Militärs ab. Wir setzen unsere Hoff­nung weiterhin auf zivile Alternativen (auch wenn diese zugegebenermaßen nicht auf  allen Eskalationsstufen grei­fen), obwohl in der gegenwärtigen Dis­kussion militärische Allmachtsphanta­sien dominierend zu sein scheinen. Zugleich wollen wir die Frage einer deutschen Beteiligung an Interventionen getrennt von der prinzipiellen Sinnhaf­tigkeit eines militärischen "Engage­ments" diskutieren.

 

IV. In der sicherheitspolitischen Diskussion der NATO-Staaten erkennen wir die verhängnisvolle Tendenz, den Begriff der "Sicherheit" auf immer mehr Gebiete auszudehnen, von wirtschaftlicher Stabilität über Drogen bis zur Umwelt­zerstörung. Da "Sicherheit" ein macht­politisch konnotiertes Wort ist, legt diese Redeweise eine militärische Lös­barkeit der damit bezeichneten Probleme nahe. Dies entspricht der Absicht der Regierung Kohl, der Bundeswehr neue, teilweise attraktiv klingende und für kritische Menschen akzeptabel er­scheinende Aufgaben zuzuschreiben. Doch wer die Bundeswehr selbst für den Umweltschutz zuständig erklärt, trägt zur Militarisierung von Problemfeldern bei, die alles Mögliche erfordern, nur keine kriegerische Einmischung.

Wir plädieren für das gegenteilige Vor­gehen. Dem Instrument Bundeswehr sprechen wir die Tauglichkeit zur Lö­sung realer Probleme generell ab, und die einzige Aufgabe, auf die die Bun­deswehr   bislang spezialisiert gewesen sein. soll, die Landesverteidigung, ist mangels Bedrohung kein reales Pro­blem. Daher sehen wir keine Veranlas­sung, die friedensbewegte Forderung nach einer Bundesrepublik ohne Armee (BoA) fallenzulassen.

Eine Außenpolitik der Selbstbeschrän­kung, die wir befürworten, setzt nicht bei den Symptomen eines unfriedlichen Weltsystems an, sondern bei den Ursachen, als sie die Abwendung auch von nichtkriegerischen Mitteln imperi­alistischer Expansion und Übervor­teilung vorsieht. Sie erforderte nicht nur einen völligen Verzicht auf Rüstungsexporte, sondern auch die Abkehr von einer verschwenderischen Weise der Herstellung und des Verbrauchs von Gütern, die ohne die international krisenverschärfende Erzielung von komparativen Exportvorteilen und ohne die Externalisierung von "Störfaktoren" (Müll, Arbeitslosigkeit, etc.) nicht zu halten wäre. Hingegen bliebe eine Politik, die sich auf die Möglichkeit militärischer Interventionen verließe, in einem Teufelskreis befangen: Die kapitalistischen Industrienationen wären immer wieder versucht, gegen die Konsequenzen ihrer eigenen Repro­duktionsweisen und außenpolitischen Durchsetzungsstrategien zu inter­venieren.

Das Gerede von der erhöhten "Ver­antwortung" des größer gewordenen Deutschland ist entweder hohl oder manipulativ; im zweiten Falle soll es machtpolitische Ambitionen mit der Weihe moralischer Verpflichtung verse­hen.

Ähnlich wie Japan mit Ausnahme eini­ger restriktiv definierter Blauhelmkontingente den Vereinten Nationen alle di­rekt militärischen Beiträge versagt hat, könnte  sich die Bundesrepublik zur Kriegsdienstverweigerung in der Neuen Weltordnung entschließen. Auf der Ba­sis des völligen Verzichts auf kriegeri­sche Partizipation an welchen Missio­nen auch immer wäre dann zu diskutie­ren, in welcher Weise sich unser Land für die Prävention und die Auflösung von Konflikten in anderen Weltgegen­den einsetzen könnte. Dazu wäre mit Si­cherheit mehr erforderlich als eine Auf­stockung der (in ihrer heutigen Form ohnehin problematischen) Entwick­lungshilfe. Wie immer es konkret zu füllen wäre: Das Konzept eines "weltweiten Zivildienstes" könnte den defensiv akzentuierten Ansatz der Selbstbeschränkung um ein Moment der friedensförderlichen Einmischung er­gänzen.

aus: antimilitarismus Information (ami) Heft 6/1993

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