Eine Mauer hat zwei Seiten!

von Mario AlbrechtJan ChenkoVeit Vogel

Der folgende Text entstand während der Dreijahreskonferenz der War Resisters' International in Belgien. Drei Vertreter aus der ehemaligen DDR schrieben ihn in Reaktion auf die Art und Weise, wie auf der Konferenz - wie auch bei anderen Gelegenheiten - über die Ereignisse in der DDR im Herbst 1989 diskutiert wurde.

Zur Eröffnung der WRI-Konferenz wurde ein Dia-Beitrag („People have the Power“) gezeigt. Er begann mit Bildern über die Ereignisse in der DDR im Herbst 1989, die sogenannte friedliche Revolution. Wir denken, daß die Szenen, in deren Vordergrund der Fall der Mauer stand, ein falsches Bild vom wahren Charakter der Ereignisse vermitteln. Unserer Meinung nach wurde die Maueröffnung unzulässig in Beziehung zu den gewaltfreien Umwälzungen in Osteuropa gesetzt.

Eine genaue Betrachtung der Geschehnisse zeigt sich einander ausschließende Bestrebungen und Tendenzen. Einerseits gab es Kräfte, die sich für eine Demokratisierung, reale Mitbestimmung und Öffnung der Gesellschaft einsetzten. Gleichzeitig darf jedoch die andere Seite, die Flüchtlingsbewegung über die CSSR und Ungarn, nicht übersehen werden. Zehntausende nutzten hier einfach die Chance, die sich durch die Öffnung Ungarns nach Westen aufgetan hat. In dieser Atmosphäre entstand auf den Leipziger Montagsdemonstrationen der massenhafte Ruf „Wir bleiben hier!“. Dieser Ruf bedeutete, daß sich die Unzufriedenheit der Menschen nicht mehr über die Landesgrenzen abschieben ließ.

Das war ein neuer Aspekt in der Oppositionsbewegung des Sommers/Herbstes 1989. Die Ausreisewelle hingegen begleitete die gesamte Geschichte der DDR. Der Staat und seine Machtorgane waren unfähig, diese neue Lage zu analysieren und mit den üblichen Methoden darauf zu reagieren. Das „Wir bleiben hier!“ entzog der Propaganda vom äußeren Feind und den verblendeten Ausreisenden den Boden. Die Polizei und die Staatssicherheit reagierten zunehmend nervös und gewalttätig auf Demonstrationen (2. Oktober Leipzig, 7./8. Ok­tober Berlin u.a.). Die Auseinandersetzungen am 3. Oktober um den Dresdener Hauptbahnhof, die bis zum 5. Oktober anhielten, waren hingegen ein Ergebnis der Schließung der Grenzen zur CSSR.

Am 9. Oktober spitzte sich die Konfrontation zur Leipziger Montagsdemo enorm zu. Die Menschen befürchteten eine „Chinesische Lösung“, also die militärische Niederschlagung des Aufbegehrens. Jahrzehntelang berief sich die SED auf eine Politik zum Wohle des Volkes. Das Volk antwortet mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“.

„Sicherheitspartnerschaft“
Aber in Leipzig wurde ein starkes Potential an Sicherheitskräften zusammengezogen, Polizei, Armee und Kampfgruppen. Zu diesem Zeitpunkt rief eine Gruppe von Prominenten (VertreterInnen von Kultur und Kirche) und SED-Funktionären zur Gewaltfreiheit auf beiden Seiten auf. Das Potential zur Friedfertigkeit war bei den Demonstranten ausreichend groß, um eine gewaltsame Auseinandersetzung zu vermeiden. Zu groß war die Angst vor dem sogenannten „chinesischen Modell“. In den Streitkräften diskutierten Soldaten und Offiziere untereinander, es gab eine wachsende Zahl von Befehlsverweigerungen und eine geringere Bereitschaft zur Niederschlagung der Demonstrationen. Dadurch wurde der Ruf „Keine Gewalt!“ zum entspannenden Moment am 9. Oktober. In den folgenden Wochen führte dies zur „Sicherheitspartnerschaft“ zwischen Polizei und Demonstranten. Der Höhepunkt der demokratischen Bewegung war der 4. November mit den größten Massendemos in der Geschichte der DDR. Die größte Kundgebung fand in Berlin statt.

Der Ruf „Keine Gewalt!“ stellte aber zu keinem Zeitpunkt einen Aufruf zur gewaltfreien Revolution dar, sondern ein Gentleman-Agreement mit den Machthabern. Die revolutionäreren Aspekte des Aufbegehrens wurden durch die Sicherheitspartnerschaft abgeschwächt, die Bewegung durch die Öffnung der Mauer am 9. November zersplittert. Die revolutionäreren Ansätze wurden durch die Forderung nach Wiedervereinigung Deutschlands ersetzt.

Das Volk hat die Mauer nicht geöffnet
Der eigentliche Fall der Mauer kam durch Panik und Strategie der alten Machthaber zustande. Strategie, um zu retten, was zu retten war, und Panik aus Hilflosigkeit der Regierung Krenz heraus. Die Öffnung der Mauer in Berlin hatte eine Ventilfunktion, um den revolutionären Druck zu beenden. Das Volk hat die Mauer nicht geöffnet. Es hat Reisegesetze diskutiert und nicht die Abschaffung der Grenze. Die Menschen waren überrascht, die Wiederveinigungseuphorie begann. Die demokratische Opposition wurde dadurch vom Volk isoliert. Das führte schließlich zum Wahlergebnis  vom 18. März 1990.

Wir sind der Meinung, daß die offiziellen und etablierten Massenmedien sowie die Politiker der meisten Staaten bewußt die Maueröffnung als den zentralen Punkt der Ereignisse setzen und zum Sinnbild der osteuropäischen Umwälzungen umdeuten. Damit stellen sie die Fakten auf den Kopf. Nicht die Öffnung der Mauer ist der Ausdruck gewaltfreier Umwälzungen in der DDR und anderswo, sondern die Leipziger Demonstration vom 9. Oktober 1989.

So groß die Symbolwirkung des Falls der Mauer auch sein mag, er hat wenig mit gewaltfreier Aktion und „The People has the Power“ zu tun, darf nicht losgelöst von seinen Folgen, zum Beispiel der nationalistischen Euphorie, der Ausweitung des NATO-Paktes und der Remilitarisierung Westberlins betrachtet werden. Was fehlte, um diese „Wende“ Revolution nennen zu können, war die konsequente Entmachtung von Staatssicherheit und Armee, war die Befreiung der politischen Gefangenen, die Übernahme der Selbstverwaltung in den Betrieben etc. Wir sind von einer totalitären Diktatur in eine importierte westdeutsche Vertreterdemokratie hineingerutscht.

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Hintergrund
Mario Albrecht gehört dem Freudenskreis der Wehrdiensttotalverweigerer an, Jan Chrenko dem Pazifistischen Aktions Zentrum Freiberg und Veit Voigt der DFG-VK Ortsgruppe Erfurt.
Jan Chrenko dem Pazifistischen Aktions Zentrum Freiberg.
Veit Vogel ist bei der DFG-VK Ortsgruppe Erfurt.