Die Umrisse einer gerechten und ökologischen Weltwirtschaftsordnung

Eine Welt für alle

von Wolfgang Kessler

Es ist doch alles paletti. Die deutsche Wirtschaft wächst mit über drei Prozent. Die Volkswirtschaften Chinas und Brasiliens wachsen jeweils mit zehn Prozent, Indiens Zuwachsrate liegt nur knapp darunter. Krise war gestern, heute ist Aufschwung, hört man viele Politiker, Ökonomen und Journalisten jubeln. Und auch die Banken spekulieren schon wieder, als hätte es nie eine Finanzkrise gegeben.

Richtig ist: Die Weltwirtschaft wächst wieder mit höherem Tempo, und die Globalisierung hat in einigen Ländern des Südens eine – oft schmale - Mittelschicht entstehen lassen, die nach westlichem Muster konsumiert und lebt. Doch die Probleme der Weltgesellschaft sind durch den neu erwachenden Turbokapitalismus nicht zu lösen. Im Gegenteil. Die Kluft zwischen Arm und Reich wächst überall, auch im wohlhabenden Norden. Rund 2,6 Milliarden Menschen im Süden leben laut den Vereinten Nationen von weniger als zwei Dollar am Tag – und damit schlechter als alle Kühe in der Europäischen Union, die jeden Tag umgerechnet mit mehr als 2,60 Dollar subventioniert werden. Rund 1.200 Milliarden Dollar fließen jährlich in Waffen, doch es fehlt an Geld für entscheidende Schritte gegen jenen Klimawandel, der für die Ärmsten der Armen in Mittelamerika, Afrika und Südasien eine Tragödie beutet: Sie stoßen kaum Treibhausgase aus, haben aber bereits heute mit katastrophalen Folgen von Orkanen, Überschwemmungen oder Trockenheiten zu kämpfen. Zudem wissen alle, dass die endlichen Rohstoffe knapp werden – und führen bereits Kriege um sie. Rast der Turbokapitalismus weiter, wird es mehr Kriege um knappe Ressourcen geben. „Die Erde hat Platz für jedermann, aber nicht für jedermanns Gier.“ Dieser Satz von Mahatma Gandhi gilt auch heute noch.

Wachstum alleine genügt nicht
Vor diesem Hintergrund sind die Jubelmeldungen über hohe Wachstumsraten Schall und Rauch. Die Frage ist, wem das Wachstum nutzt und ob seine ökologischen Folgekosten nicht größer sind als der Nutzen. Soll Wirtschaftswachstum Gerechtigkeit befördern und gleichzeitig die Ressourcen und das Weltklima schonen, dann muss die kapitalistische Gier in die Schranken gewiesen werden – im Norden und im Süden der Welt.

Seit Jahren setzt zum Beispiel die deutsche Wirtschaft auf neue Exportrekorde. Gerechter wird das Exportwachstum die deutsche Gesellschaft jedoch erst dann machen, wenn der wirtschaftliche Reichtum das Leben möglichst Vieler bereichert: durch gerechte Löhne für die Beschäftigten, durch Investitionen in gute Kinderbetreuung, in Schulen, in Universitäten, in den medizinischen Dienst und in die Pflege. Und nicht zuletzt braucht es nachhaltige Investitionen in erneuerbare Energien, in die Einsparung von Energie, in ein ökologisches Verkehrssystem und in die biologische Landwirtschaft, um den Wohlstand mit viel weniger Ressourcen zu sichern.

Der freie Markt hat so manches Verdienst, sozial und ökologisch ist er jedoch blind. Mehr Gerechtigkeit erfordert deshalb den Mut der Politik, den wirtschaftlichen Reichtum gerechter zu verteilen und Steuern auf Kapitaleinkommen, Spitzenverdienste, auf Privatvermögen und hohe Erbschaften zu erhöhen oder zu erheben. Machbar ist dies allemal. Würden Erbschaften, Vermögen und Kapital so besteuert wie in Frankreich, dann flössen jedes Jahr 66 Milliarden Euro mehr in die Kasse.

Globale Gerechtigkeit
Noch dringender ist eine gerechtere Verteilung des globalen Reichtums – und längst nicht so schwierig, wie die Politik glauben macht. Wenn alle Industrieländer – wie von der UNO gefordert – wirklich 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes in die Entwicklungshilfe investieren würden, dann stünden Jahr für Jahr rund 100 Milliarden Dollar mehr zur Bekämpfung der weltweiten Armut zur Verfügung als heute. Und würde es Vielflieger und Börsenspekulanten wirklich in die Verzweiflung treiben, wenn alle Staaten auf ihre Flugtickets eine Entwicklungsabgabe erheben oder Börsenumsätze mit 0,1 oder 0,5 Prozent besteuern würden? Solche globalen Abgaben hätten einen doppelten Effekt. Das rasende Spekulationskarussell würde langsamer und kontrollierbarer, das umweltschädliche Fliegen teurer und weniger attraktiv. Dafür stünden Milliarden zur Verfügung, um die Armut weltweit gezielt zu bekämpfen.

Bekämpfung der Armut – das meint nicht Almosen, sondern eine Politik, die die Armen in die Lage versetzt, ihre Lebenschancen zu verbessern. Wo Kleinbauern höhere Preise für ihre Produkte erzielen – wie beim fairen Handel – bauen sie selbst Schulen und Gesundheitszentren. Wo Menschen auch nur ein geringes Grundeinkommen erhalten – wie für zwei Jahre in einem Dorf in Namibia – entfalten sie ihre Kreativität und verbessern die Lage ihrer Familien. Schon zehn Euro pro Monat für alle Bewohner des namibischen Dorfes Otjivero halfen das Selbstbewusstsein jener zu heben, die bisher wenig zu sagen hatten: der Frauen. Man stelle sich nur diese Folgen eines Grundeinkommens in einem afghanischen Dorf vor. Es würde in wenigen Jahren mehr zu Gerechtigkeit und zur Befreiung der Menschen beitragen als die verhängnisvolle Zusammenarbeit von Militär und Entwicklungshilfe von heute.

(Alb-)traum freier Welthandel
Der freie Welthandel ist ein großer Traum – für die, die ihn sich leisten können. Für Kleinbauern in Burkina Faso oder Sierra Leone ist er ein Albtraum. Sie können der Welt nichts verkaufen. Gleichzeitig müssen sie damit rechnen, dass ihr Hühnerfleisch teurer ist als die hoch subventionierten Hühnerbeine aus der Europäischen Union. Deshalb brauchen sie Schutz vor dem Zugriff des Weltmarkts, um lokale und regionale Märkte für ihre Bedürfnisse entwickeln zu können. Gelingen wird dies nur, wenn die Entwicklungsländer ihre Märkte gegen Billigimporte abschotten, um die eigenen Landwirte zu stärken. Wenn dann die 500 Millionen Landlosen der Welt noch Land erhalten, sich zu Genossenschaften zusammenschließen und Nahrungsmittel für sich und ihre Umgebung produzieren – dann kann der Kreislauf von Armut und Unterernährung durchbrochen werden.

Schutz brauchen die Armen auch vor der Enteignung durch die großen Unternehmen: Bauern im Süden verlieren ihre Existenz, wenn sie Lizenzgebühren für die Wiederaussaat zahlen müssen. Ihre Existenz wird erst gesichert, wenn Patente auf Saatgut verboten und der Tausch von kommerziellem Saatgut kostenfrei zugelassen wird. Ähnliches gilt für den Zugang zu Wasser, Bildung und Medikamenten. Wer solche Dienste zu kommerziellen Waren macht, beraubt arme Menschen ihrer Lebenschancen. Für Schwerkranke in den Slums kann der Patentschutz den sicheren Tod bedeuten, wenn Medikamente dadurch für sie unerschwinglich werden. Deshalb müssen die Interessen der Armen Vorrang haben vor dem Interesse der globalen Konzerne am Patentschutz.

Globale Regeln für die Multis
Der freie Weltmarkt nützt den transnationalen Konzernen – und den Verbrauchern im Norden: Die einen können dort produzieren, wo es besonders billig ist, die anderen erhalten billige Produkte. Doch: Viele Produkte sind nur deshalb so billig, weil dafür Kinder arbeiten, billige Arbeitskräfte in Fabriken oder auf Plantagen ausgebeutet werden oder die Natur hemmungslos mit Pestiziden oder mit Müll verseucht wird.

Globale Gerechtigkeit und ein nachhaltiges Wirtschaften wird es deshalb erst geben, wenn die internationale Politik den Konzernen klare Regeln auferlegt, wenn etwa die Welthandelsorganisation WTO festlegen würde, dass der freie Handel für Unternehmen nur gilt, wenn sie keine Kinder ausbeuten, wenn sie soziale Mindestnormen auf Plantagen und in Fabriken akzeptieren, Gewerkschaften zulassen und Beschäftigte nicht aufgrund von Geschlecht oder aus anderen Gründen diskriminieren. Was so technokratisch klingt, würde für Frauen, die auf den Plantagen Mittelamerikas erst mit Pestiziden besprüht werden und später Bananen pflücken, ebenso eine soziale Revolution bedeuten wie für jene, die in Chinas Fabrikkasernen für Aldi und Tchibo T-Shirts nähen. Und niemand sage, dies sei nicht durchsetzbar. Schon heute erheben die Schiedsgerichte der WTO Bußgelder, wenn Länder gegen den freien Handel verstoßen. Wann schreiten sie ein, wenn Konzerne Menschen ausbeuten?

Öko-Wende oder Rohstoff-Kriege
Klar ist: Wenn alle Länder so wirtschaften und leben wie die Industriestaaten, dann drohen ökologischer Kollaps, soziale Konfrontationen sowie Kriege um knappe Rohstoffe. Verhindern können dies derzeit nur die Industriestaaten. Realistisch ist diese Wende nur bei massiven Investitionen in den ökologischen Umbau und bei neuen wirtschaftspolitischen Anreizen: Ein konsequent ökologisches Steuer- und Abgabensystem verteuert den Umweltverbrauch und belohnt die Einsparung von Ressourcen. Diese ermutigt Unternehmen und Verbraucher, die Wegwerfproduktion durch eine langlebige Wirtschaft auf der Grundlage von Wiederverwertung und Reparatur zu ersetzen. Die Einnahmen aus den Öko-Steuern und -abgaben könnten dann eine Grundsicherung finanzieren, die die Benachteiligten vor den sozialen Folgen der Ökowende schützt.

Diese Wende im Norden hat globale Bedeutung. Wenn sich im Norden erneuerbare Energien und Energiespartechniken durchsetzen, dann werden sie auch im Süden eingesetzt – und letztlich produziert. Wie in Sri Lanka. Dort haben 120.000 Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben Strom, und es ist Sonnenstrom. Er entsteht auf den Hütten einfacher Bauern, weil sie zinsfreie Kredite von der Weltbank erhalten und die Produktion von Solarmodulen in einheimischen Unternehmen international gefördert wird. Jetzt wird eine regionale Entwicklung möglich.

Wenn der Norden dann noch finanzielle Mittel mobilisiert, um die Länder des Südens vor den Folgen des Klimawandels zu schützen, zu denen sie kaum beigetragen haben, dann haben alle Menschen auf der Welt und auch künftige Generationen die große Chance auf ein Leben in Würde: Der Klimawandel wird verlangsamt, die Welt wird vor Rohstoffkriegen bewahrt und die Armen können ihr Leben verbessern, ohne die Welt zu zerstören. Die Vision von Mahatma Gandhi wird Wirklichkeit: Eine Welt für jedermann und jedefrau.

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Wolfgang Kessler ist Wirtschaftspublizist und Chefredakteur der christlichen Zeitschrift Publik-Forum: www.publik-forum.de