Soziale Verteidigung steht wieder auf der Tagesordnung!

Einleitung

von Renate Wanie
Schwerpunkt
Schwerpunkt

Soziale Verteidigung (SV), seit dem Endes des „Kalten Krieges“, dem Fall der Mauer und der Auflösung des Warschauer Paktes in einen Tiefschlaf gefallen, ist wieder erwacht. Stehen wir am Anfang einer neuen Renaissance? Nein, nicht der von Florenz, sondern der von Minden? Brauchen wir ein Konzept, um „den Krieg im Frieden zu verhindern“, fragt Uli Wohland in seinem Gedankenexperiment auf den nächsten Seiten. Klingt diese Frage utopisch? Nein. Auch gerade dann nicht, wenn militärische Verteidigung, wie derzeit überwiegend diskutiert, als alternativlos verkauft wird. Im Denken vieler Menschen ist der Griff zu den Waffen die einzige Option, um den Feind zu besiegen.
Umdenken ist angesagt! Das ist das Ziel der neuen Kampagne. Dafür setzt sich seit Juni vergangenen Jahres ein engagierter Zusammenschluss von Einzelpersonen, Initiativen und Organisationen aus dem friedensbewegten Spektrum ein. Zwei Hauptamtliche, Nele Anslinger und Nicklas Böhm, bringen die Kampagne zuverlässig voran. Die Zeit ist reif für eine Soziale Verteidigung, auch auf dem Hintergrund der Wiederkehr des Militärischen und der Zunahme von Ideologien, gerade auch in Europa.

Ziele der Kampagne: Soziale Verteidigung mit einem menschlichen Gesicht
Erklärtes Ziel der Kampagne ist, „Soziale Verteidigung in der Öffentlichkeit als ernstzunehmende Alternative in der sicherheitspolitischen Diskussion bekannt zu machen.“ (1) Der Grundgedanke ist, SV nicht nur als theoretische Möglichkeit einer Öffentlichkeit näher zu bringen. Es geht darum, SV als sinnvolle und konkrete Alternative zur militärischen Verteidigung zu vermitteln sowie Angebote zur aktiven Beteiligung an der Kampagne zu machen. Angesprochen sind Menschen, die „einfach und normal arbeiten, angestellt sind oder in unterschiedlichen Institutionen mitarbeiten.“ (ebd.) Doch wie können sie in ihrem Alltag für ein alternatives und gewaltfreies Verteidigungskonzept gewonnen werden? Die Kampagnenkoordinatorin Nele Anslinger hebt in ihrem Artikel hervor, dass bei der SV der Fokus nicht auf die Sicherung der nationalen Grenzen gelegt wird, sondern auf die Bewahrung der sozialen und gesellschaftlichen Institutionen und Errungenschaften. (ebd.) Letztlich geht es um die Bewahrung der Lebensweise und den Schutz der Menschen – eine Kampagne mit zivilgesellschaftlichem Engagement und der Chance, mehr Menschen für die Umsetzung der SV zu gewinnen.
Wie Menschen zu gewinnen sind, die von SV noch keine Kenntnis haben und Vorbehalte äußern, jedoch eine gewisse Offenheit signalisieren, gibt Martin Humburg Anregungen aus Untersuchungen der Sozialpsychologie. Z. B. entwickle sich Interesse eher, wenn die Vorstellungen zur SV in Übereinstimmung stehen mit Einstellungen der Person, ihrem bisherigemn Verhalten oder wenn Elemente der SV auf eigenen Erfahrungen beruhen.  

Zur Doppelstruktur der Kampagne
Mit der Kampagne „Wehrhaft ohne Waffen“ besteht die Chance, mehr Menschen für die Idee der SV und ihre konkrete Umsetzung zu gewinnen. Die Kampagne erreicht Menschen mit einem doppelten Angebot: mit einer Dachkampagne, die konzeptionelle Aufgaben übernimmt, das nationale Netzwerk bildet und aus mehreren lokalen Kampagnen in sogenannten Modellregionen besteht. Die Dachkampagne gibt den Modellregionen eine bundesweite Bühne, um auch überregional politischen Druck zu erzeugen. Die Modellregion ermöglicht eine niedrigschwellige Beteiligung vor Ort.
Tobias Pastoors hebt in seinem Artikel hervor, dass, sobald wir Deutschland auf SV umrüsten würden, wir Verteidigung anders denken müssten. Gewaltfreie Wehrhaftigkeit folge anderen Prinzipien als militärischen. Militärische Verteidigung ist zentral organisiert. Der Fokus bei SV liege auf der Entwicklung regionaler Verteidigungsstrategien, also auf regionaler Planung vor Ort. SV brauche dezentrale Strukturen! Deshalb werden in den Modellregionen lokale Handlungskonzepte entwickelt und eingeübt. Die Regionen arbeiten eigenbestimmt - mit der Organisierung von Veranstaltungen, Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit und Mitmachaktionen.

Strategien und historische Beispiele zivilen Widerstands
Neu in die Diskussion gekommen ist das Thema sogenannter „unverteidigter Orte“. In seinem Artikel nimmt Norman Paech eine juristische Begriffsklärung vor und verweist darauf, dass unter Sozialenr Verteidigung vielfältige Formen des Zivilen Ungehorsams verstanden werden, doch richten sie sich vorwiegend gegen Zustände und Situationen innerhalb eines Staates. Dabei verweist er auf die Haager Landkriegsordnung von 1907 -– hier wird der Begriff „unverteidigte Orte“ eingeführt – und die 1977 konkretisierten und legalisierten Regelungen der IV. Genfer Konvention (im Humanitären Völkerrecht). Diese gelten für die Beziehungen zwischen den Staaten für eine zeitlich begrenzte Besatzung.
Kritisch informiert Uli Stadtmann über ein aktuell entwickeltes Widerstandskonzept, das zivile Formen des Widerstandes vermischt mit bewaffnetem Widerstand, speziell konzipiert für Länder und Regionen, die über keine großen militärischen Kapazitäten verfügen, wie z. B. das Baltikum. Gewaltfreier Widerstand als Element militärischer Kriegsführung?
Doch es gab auch andere Formen des Widerstands in den drei baltischen Ländern Lettland, Estland und Litauen. Dietrich Becker-Hinrichs wirft exemplarisch einen Blick zurück in die jüngere Geschichte dieser Länder: Im August 1989 bildeten z. B. zwei Millionen Menschen eine singende Menschenkette über 600 km durch die baltischen Staaten und demonstrierten so gegen die Besatzung durch die Sowjetunion und für die Unabhängigkeit.
Welche Bedeutung der ebenfalls historische, weitgehend zivile passive Widerstand im Ruhrgebiet, staatlich organisiert und geführt, für die Soziale Verteidigung heute haben könnte, das zeigt Barbara Müller am Beispiel des passiven Widerstands im Ruhrkampf 1923 auf.
Julia Nennstiel (2) skizziert, was aus der Analyse neuerer Fälle zivilen Widerstands als zentrale Herausforderungen für SV gelernt werden kann, und benennt generell den Umgang mit Repressionsmethoden. Insbesondere werde, was als konventionelle Repression (z. B. physische Verletzung, rechtliche Sanktionen) benannt werden kann, zunehmend durch digitale Repression ergänzt.  

Soziale Verteidigung – alte Klamotte oder Maßanzug für eine resiliente Gesellschaft?
Das Konzept der Sozialen Verteidigung ist so aktuell wie nie zuvor! Gerade auch mit den über Jahrzehnten gemachten Erfahrungen mit vielfältigen Formen Gewaltfreier Aktion und des Zivilen Ungehorsams, getragen von Akteur*innen aus den sozialen Bewegungen. Auf der Tagesordnung steht eine militärfreie, soziale und global gerechte, ökologische Zeitenwende! Die neue Kampagne „Wehrhaft ohne Waffen!“ arbeitet an den Grundlagen für eine resiliente Gesellschaft, die gegen Bedrohungen aktiv wird - mit zivilen und gewaltfreien Mitteln! Das wäre dann eine wirkliche Zeitwende und eine Art Wiedergeburt, die Renaissance eines zum Glück nicht vergessenen Konzeptes.

Anmerkungen
1 Anslinger, Nele: Wehrhaft ohne Waffen. Neue Kampagne zur Sozialen Verteidigung. Graswurzelrevolution 1/2023, S. 10
2 Die Namen der aufgeführten Autor*innen in dieser Einleitung beziehen sich auf die Artikel auf den nachfolgenden Seiten.

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