Die Arbeit der Nationalen Friedens-Jirga

Frieden durch Verhandlungen?

von Otmar Steinbicker

Die Bilanz von acht Jahren Afghanistan-Krieg, die General McChrystal am 30. August an US-Verteidigungsminister Gates schickte, war erschreckend nüchtern. Auf 66 Seiten legte der General dar, wie ernst die Lage ist – vor allem deshalb, weil die Afghanen kein Vertrauen haben, weder in die Karzai-Regierung, noch in die internationalen Truppen. Und dass dieses fehlende Vertrauen mehr als berechtigt ist. Dabei nannte er als Gründe u.a. die bisherige brutale Kriegführung durch die USA, den fehlenden Respekt vor allem der US-Truppen gegenüber der afghanischen Kultur, die Korruption und Unfähigkeit der Karzai-Regierung sowie fehlende Erfolge im zivilen Aufbau. Viele Einzelaspekte dieser Analyse waren bisher eher bei Kriegsgegnern zu lesen. Dennoch hofft McChrystal, mit einer deutlichen Truppenverstärkung das Blatt binnen eines Jahres wenden und das Vertrauen der Afghanen gewinnen zu können.

US-Präsident Obama gibt sich zurückhaltend. Seit Wochen berät sein Stab die Lage in Afghanistan und mögliche Auswege. McChrystals Forderung nach mehr als 40.000 Soldaten liegt auf dem Tisch. Doch es gab bis Redaktionsschluss keine Zustimmung. Eine Alternative zeigt sich in vagen Umrissen: Da wird die zentrale These infrage gestellt, dass ein Sieg der Taliban die Wiederkehr von El Kaida bedeute. Wenn diese These fiele, dann gäbe es nicht nur die Option einer Truppenverstärkung, sondern auch die Möglichkeit einer innerafghanischen Verhandlungslösung unter Einschluss der Taliban. Aber wird diese These aufgestellt werden?

Und – falls ja - bietet eine innerafghanische Verhandlungslösung eine realistische Perspektive?

Ein Krieg endet erfahrungsgemäß seltener durch die Kapitulation einer der Konfliktparteien, sondern häufiger durch Verhandlungen. Wer nach acht Jahren Krieg nicht endlos auf eine Kapitulation von NATO oder Taliban warten will, muss Szenarien für Verhandlungen entwerfen und Gesprächskanäle zwischen den Konfliktparteien herstellen.

Als die Kooperation für den Frieden im Januar 2008 ihre Strategiekonferenz in Aachen zum Thema Afghanistan abhielt, gab es bereits von unterschiedlichen Konfliktparteien innerhalb Afghanistans Signale der Verhandlungsbereitschaft. Da hieß es, der Warlord Gulbuddin Hekmatyar und auch die mit ihm verbündeten Taliban wollten mit der afghanischen Regierung verhandeln. Ebenso sandte auch die Regierung in Kabul medial entsprechende Signale.

In Afghanistan führte die aufkommende gesellschaftliche Debatte über einen möglichen Verhandlungsprozess dazu, dass am 9. Mai 2008 3.000 Stammesvertreter, Intellektuelle und Politiker aus allen Teilen Afghanistans in Kabul zusammentraten und die „Nationale Friedens-Jirga“ (Friedensversammlung) gründeten. Diese repräsentiert die breite, kriegsmüde Bevölkerungsmehrheit vor allem aus dem Süden und Osten Afghanistans, die sich dringend nach Frieden und nach einem Abzug der ausländischen Soldaten sehnt, die längst nicht mehr als Befreier, sondern immer stärker als Besatzungsmacht empfunden werden.

Die Botschaft der Friedens-Jirga lautete schlicht: Afghanistan ist noch nicht verloren. Der Krieg ist auf dem Schlachtfeld nicht zu gewinnen, und nur ein Dialog kann Schlimmeres verhindern. Und es gibt Menschen, die bereit sind zu helfen, damit der Friedensprozess in Gang kommen kann. Nach ihren Beratungen besuchten die führenden Köpfe der Jirga die Botschaften einiger europäischen Länder, darunter Deutschlands. Ihr Kalkül: Da die Taliban Gespräche mit der afghanischen Regierung und den Amerikanern ablehnen, könnte die Bundesregierung eventuell gemeinsam mit anderen europäischen Regierungen in Gesprächen mit der Opposition und der afghanischen Regierung Verhandlungen anregen.

Schon bald danach kam es zu ersten Kontakten zwischen der Kooperation für den Frieden und der Nationalen Friedens-Jirga Afghanistans, die sich im September 2008 in einer gemeinsamen Erklärung niederschlugen, in der unter anderem die Bundesregierung aufgefordert wurde, “durch eigene Schritte, eventuell gemeinsam mit anderen europäischen Regierungen, islamischen und blockfreien Ländern, in Gesprächen mit den unterschiedlichen Gruppierungen der afghanischen Opposition einschließlich der Taliban und mit der afghanischen Regierung eine neue Tür für Verhandlungen [zu] öffnen und einen Verhandlungsprozess nach Kräften zu fördern”. Zugleich wurde die Forderung nach einem Abzug der ausländischen Truppen gestellt. “Unabdingbare Bedingung für erfolgreiche Verhandlungen ist die Festlegung konkreter Daten, an denen der Abzug der internationalen Truppen aus Afghanistan beginnt und endet. Nur so kann auch im Lande eine eigenständige Struktur geschaffen werden. Die Bekanntgabe fester Abzugsdaten würde in der afghanischen Bevölkerung Vertrauen wecken und somit auch zum Frieden beitragen”, heißt es in der Erklärung.

Bald darauf entwickelte sich aus der gemeinsamen Erklärung der Vorschlag, über regionale Waffenstillstände die Aufnahme von Gesprächen und schließlich Verhandlungen zu erleichtern. Mit Blick auf die Bundesregierung wurde ein erster Waffenstillstand in der Provinz Kundus vorgeschlagen. Sondierungen der Jirga bei den Taliban ergaben im Frühjahr 2009 Zustimmung, das Auswärtige Amt reagierte mit Desinteresse.

Deutlich mehr Interesse zeigte bald darauf die UNO. Der UNO-Repräsentant in Afghanistan, Kai Eide, hielt am 18. Juni 2009 in Kabul eine bemerkenswerte Rede vor 1.000 Delegierten der Nationalen Friedens-Jirga. Dabei unterstützte Eide die Dialogbemühungen dieser Friedensbewegung und betonte die Notwendigkeit eines Verhandlungsprozesses mit allen Konfliktparteien, also einschließlich der Taliban. Sein Motto: „Frieden kann nicht von außerhalb kommen, er muss innerhalb des Landes geschaffen werden“ sollte von allen Seiten als Leitgedanke akzeptiert werden.

Nachdem es ohne Beteiligung der Jirga im Juli in einer kleinen afghanischen Provinz zu einem regionalen Waffenstillstand kam, schlugen die Kooperation für den Frieden und die Nationale Friedens-Jirga Afghanistans am 31. Juli in einer weiteren gemeinsamen Erklärung einen Waffenstillstand für Kundus vor. Auch dieses Mal regierten die Taliban mit Zustimmung, und zwar nicht nur ihre Kommandeure in Kundus, sondern auch ihre zentrale Führung im pakistanischen Quetta. Sie signalisierten zugleich ihre Bereitschaft, von Kundus ausgehend Provinz für Provinz Waffenstillstände zu schließen. Sie seien auf Perspektive bereit, die Waffen niederzulegen und als politische Partei in Afghanistan zu agieren, wenn auch die anderen Seiten zu diesem Verhandlungsprozess bereit seien. Und: zeitgleich mit der neuen Strategiedebatte in den USA veröffentlichten sie im Internet eine Erklärung, in der sie sich praktisch von El Kaida lossagten – ein wichtiges Signal!

Erstaunlicherweise waren die Aufständischen nach dem massiven Bombardement auf zwei entführte Tanklastwagen am 4. September, bei dem rund 100 Menschen starben, bereit, auf eine Racheaktion gegen die Bundeswehr im Raum Kundus zu verzichten. Stattdessen reduzierten sie nach eigenen Angaben ihre militärischen Aktionen um die Hälfte – ein Zeichen, das auch von den ISAF-Kommandeuren wahrgenommen und als Einladung zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand verstanden werden müsste. Doch wie lange dauert die Geduld der Taliban?

Wird die neue Bundesregierung sich auf Gespräche, gar Verhandlungen mit den Aufständischen einlassen? Die Entscheidung fällt in Kürze wohl nicht in Berlin, sondern an Obamas Beratertisch. Es ist nur zu wünschen, dass der US-Präsident nicht erneut – wie zuletzt im April – den Fehler begeht, auf Truppenverstärkungen zu setzen. Das würde ihm keinen Erfolg bringen, sondern die nötigen Gespräche nur verzögern und eine Verhandlungslösung erschweren.

Eine Verlängerung des Afghanistan-Mandates durch den Bundestag Anfang Dezember wäre sicherlich ein falsches Signal, eine Truppenverstärkung sogar ausgesprochen gefährlich. Dann würde sich sehr bald die Frage stellen: Wie viele Bundeswehrsoldaten müssen noch sterben, bevor verhandelt wird?

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de