Gewaltspiralen durchbrechen und Konfliktursachen bearbeiten

Friedensgutachten 2024

von Otmar Steinbicker
Hintergrund
Hintergrund

„Das globale Konfliktgeschehen hat sich im vergangenen Jahr weiter verschärft: Der Krieg zwischen Israel und der Hamas in Gaza, die anhaltende Aggression Russlands gegen die Ukraine sowie Militärputsche und dschihadistische Gewalt in Afrika forderten zehntausende Opfer. Militärische Interventionen in Konflikte zeigen dagegen kaum Erfolge, auch die Bekämpfung von Armut und Hunger stockt. Weltweit setzen zudem extremistische Bewegungen die Demokratien unter Druck. Das Friedensgutachten 2024 empfiehlt erste Schritte, um Gewaltspiralen zu durchbrechen und Konfliktursachen zu bearbeiten.“

Die Einleitung des diesjährigen Friedensgutachtens klingt vielversprechend.

Bezogen auf den Gaza-Krieg drängt das Gutachten vor allem auf Waffenruhe und die humanitäre Versorgung der Bevölkerung in Gaza. Eine politische Lösung des Konflikts wird als langfristiges Ziel gesehen. Realistisch wird konstatiert, dass die israelische Besatzung des Westjordanlandes eine Einstaatenrealität geschaffen hat. Daher gelte es, Kräfte in der palästinensischen und israelischen Gesellschaft zu unterstützen, die sich für gleiche Rechte und Aussöhnung einsetzen.

Bedeutsam ist auch die Forderung an die Bundesregierung, die Waffenlieferungen an Israel auszusetzen, weil ein „überwiegendes Risiko“ besteht, dass diese Waffen humanitäres Völkerrecht oder Menschenrechte untergraben. Darüber hinaus sollten Deutschland und die EU Institutionen des Völkerrechts stärken und die Ermittlungen internationaler Gerichtshöfe unterstützen und deren Entscheidungen achten.

Problematischer sind im Gutachten hingegen die Aussagen zur Aufrüstung. Hier solle sich die Bundesregierung im Rahmen von Rüstungskontrolle für Risikomanagement und -minderung einsetzen, um eine nukleare Eskalation zu verhindern und „auf konventionelle Verteidigung statt nukleare Aufrüstung setzen“.

Konventionelle Rüstungskontrolle und Abrüstung wird im „Friedensgutachten 2024“ nicht thematisiert! Im Gegenteil werden „Anforderungen an effiziente Rüstungsbeschaffung und der Aufwuchs der Rüstungsproduktion“ akzeptiert, unter der Voraussetzung, „dass sich die deutsche und europäische Rüstungsindustriepolitik stärker auf friedens- und sicherheitspolitische als auf wirtschaftliche Ziele ausrichtet“. Allerdings sollten Militärausgaben nicht auf Kosten friedensrelevanter Politikfelder erhöht werden.Betont wird, dass die „Bundesregierung auch in ihrem finanziellen Engagement für die Klimapolitik und die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (VN) nicht nachlassen“ solle. Die Problematik des CO2-Fußabdrucks der Rüstungsproduktion findet in dem Gutachten leider keine Erwähnung. Positiv wird gesehen, dass die verstärkte Nachfrage der Bundeswehr und verbündeter Staaten die wirtschaftliche Abhängigkeit der Rüstungsindustrie von Exporten in Drittländer vermindert und so Spielraum für eine restriktivere Rüstungsexportpolitik eröffnet werde.

Zum Thema Ukraine-Krieg spricht sich das Gutachten sogar explizit dafür aus, die militärische Unterstützung der Ukraine zu erhöhen: „Um im Krieg in der Ukraine Verhandlungen zu ermöglichen, muss die militärische Unterstützung der Ukraine nachhaltig gewährleistet werden und steigen.“

Realistisch wird konstatiert, dass für Verhandlungen das Thema des Zeitpunktes eine Rolle spielt: „Es gibt vor allem zwei Zeitpunkte innerhalb eines Konflikts, zu denen die Aufnahme von Verhandlungen wahrscheinlich wird: in sehr jungen Konflikten und bei lang andauernden Konflikten, die eine Form von ‚Reifung‘ erleben. In jungen Konflikten, die erst wenige Tage oder Wochen andauern, ist die Wahrscheinlichkeit von Verhandlungen relativ hoch. Da Gewaltkonflikte in der Regel ausbrechen, weil die Parteien kein klares Bild der Kräfteverhältnisse haben, ist eine frühe Verhandlungslösung zum einen wahrscheinlich, wenn die Parteien ihre Einschätzung der Kräfteverhältnisse korrigieren müssen.

Erfolgt dies nicht in den ersten Monaten und stellt sich auch keine klare militärische Dominanz einer Seite ein, dann wird der sogenannte ‚Reifemoment‘ relevant. Eine ‚Reife‘ für Friedensverhandlungen stellt sich ein, wenn sich zwischen den Konfliktparteien eine militärische Pattsituation abzeichnet, in der beide meinen, durch weitere Kampfhandlungen keine Fortschritte mehr machen, sondern nur noch Verluste erleiden zu können (...). Erst wenn diese Situation gegeben ist, wird die Aufnahme von ernsthaften Verhandlungen über ein Ende der Kämpfe wahrscheinlich.“

Auffällig ist, dass in diesem Zusammenhang die Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland im März 2022 – wenige Wochen nach Kriegsbeginn – nicht reflektiert, ja nicht einmal erwähnt werden. Dass sich der Kriegsverlauf in den Wochen nach Erscheinen des Gutachtens deutlich zugunsten Russlands entwickelt hat, war sicherlich nicht zwingend vorhersehbar, aber auch nicht völlig überraschend.

Befürwortet wird im „Friedensgutachten 2024“ im Übrigen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine: „Eine NATO-Mitgliedschaft ist kurzfristig aufgrund der Interessendivergenzen zwischen den Mitgliedsstaaten kaum zu realisieren, obwohl sie gerade mit Blick auf den EU-Beitrittsprozess für die Ukraine geboten wäre. Zielführender sind bilaterale Ausrüstungs- und Ausbildungsabkommen, die sicherstellen, dass die Ukraine auf NATO-Niveau gerüstet und ausgebildet ist, um jede konventionelle Bedrohung abwehren zu können.“ Dass das Thema NATO-Mitgliedschaft der Ukraine seit 2008 ein zentrales Problem im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland darstellt, wird leider ebenfalls nicht reflektiert.

Damit bleibt das „Friedensgutachten 2024“ leider im Unterschied zu den Gutachten früherer Jahre weit hinter den geweckten Erwartungen zurück.

Das Friedensgutachten ist das gemeinsame Gutachten von vier deutschen Friedensforschungsinstituten (BICC, IFSH, INEF und PRIF) und erscheint seit 1987. Es kann hier heruntergeladen werden: https://friedensgutachten.de/

 

 

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de