Ramstein- und Atomwaffenaufrufe zum Whistleblowing dürfen verteilt werden

Gerichtsurteil zum Whistleblowing

von Hermann Theisen
Hintergrund
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Nach der Einleitung von vier Strafverfahren, nach zwei Flugblattverteilverboten und nach einer Flugblattbeschlagnahme hat die Staatsanwaltschaft Siegen ihre Revision gegen ein freisprechendes Urteil des Landgerichts Siegen zurückgenommen, womit dieser Freispruch nun rechtskräftig geworden ist.

In der Verfügung der Staatsanwaltschaft heißt es dazu: „Die Revision der Staatsanwaltschaft Siegen vom 01.03.2021 gegen das Urteil des Landgerichts - 2. kl. Strafkammer als Berufungskammer - Siegen vom 26.02.2021 (11 Ns - 41 Js 673/19 - 24/20 LG Siegen) wird mangels weiterer Bemessung einer Erfolgsaussicht zurückgenommen.“ Und in dem diesbezüglichen Anschreiben der Anklagebehörde: „Die sichergestellten Flyer werden anliegend zurückgesandt.“ Hintergrund der juristischen Scharmützel sind Atomwaffen- und Ramstein-Aufrufe zum Whistleblowing, die im Sommer 2019 an der Air Base in Ramstein, am AFRICOM in Stuttgart, am Bundesverteidigungsministerium in Bonn-Hardthöhe und an der Hachenberg-Kaserne in Erndtebrück verteilt worden sind. In den Flugblättern wurde dazu aufgerufen, die Öffentlichkeit über die Hintergründe der nuklearen Teilhabe der Bundeswehr und der geplanten Atomwaffenmodernisierung sowie über die Rolle der Air Base Ramstein am Dohnenkrieg der US-Army zu informieren. Die Staatsanwaltschaften in Bonn, Siegen, Stuttgart und Zweibrücken leiteten daraufhin strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts einer Öffentlichen Aufforderung zum Verrat von Dienstgeheimnissen (§§ 111, 353b StGB) ein, worauf die Staatsanwaltschaft Siegen Anklage vor dem Amtsgericht Bad Berleburg erhob. Alle anderen Staatsanwaltschaften stellten die Verfahren indes wieder ein, nachdem sie eine Strafbarkeit der Flugblätter verneint hatten.

Im Dezember 2019 verurteilte das Amtsgericht Bad Berleburg mich wegen eines Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz zu einer Geldstrafe in Höhe von 15 Tagessätzen, verneinte aber den Vorwurf einer vollendeten Öffentlichen Aufforderung zu Straftaten. Das Landgericht Siegen hob dieses Urteil im vergangenen Februar auf und sprach vollumfänglich frei. In der schriftlichen Urteilsausfertigung heißt es hierzu: „Aus objektiver Sicht zielen die inkriminierten Flugblätter mithin darauf ab, die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen für ein kommunikatives Anliegen in Bezug auf die jeweils in den Flugblättern angesprochenen Sachverhalte, was nach Auffassung des Erklärenden, hier des Angeklagten, aber noch nicht hinreichend breit in der öffentlichen Diskussion angekommen ist. Ersichtlich im Vordergrund steht in beiden Flugblättern jeweils die Ablehnung der bestehenden Zustände bzw. in Aussicht genommenen Verschärfungen (modernere Atomwaffen, Aktualisierung der deutschen Trägersysteme, weitere Nutzung der Air Base Ramstein für Drohneneinsätze). Es handelt sich angesichts des Inhalts der Flugblätter, der von pazifistischen Zielen getragen ist, eindeutig um politische Stellungnahmen von Sachverhalten, die der Angeklagte für nicht in Einklang mit nationalem und übernationalem Recht sieht und für die er die Einhaltung verfassungsmäßiger Standards fordert. Betroffen sind danach Sachverhalte und Themenbereiche, die in der Öffentlichkeit und auch in der Politik gerade in den letzten Jahren durchaus kontrovers gesehen und diskutiert wurden bzw. werden. Beide Aufrufe sind in erster Linie Appelle an das Gewissen aller Beteiligter, die der Angeklagte vor allem durch seine provozierende Aufforderung zum `Whistleblowing´ speziell an die Soldaten und zivilen Mitarbeiter der Luftwaffe kundtun wollte. (…) Die plakativen Aufrufe zum `Whistleblowing´ mit der Forderung nach `umfassender und rückhaltloser´ Information der Öffentlichkeit stellen danach bei Gesamtbetrachtung im Ergebnis nicht deren Selbstzweck dar im Sinne einer bewusst-finalen Einwirkung auf den speziell angesprochenen Adressatenkreis mit dem Ziel, in ihnen den Entschluss zu bestimmten für sie strafbaren Handlungen hervorzurufen. Vielmehr bilden sie ein dem Kommunikationsanliegen untergeordnetes, wenn auch drastisches Mittel zur Einwirkung auf die öffentliche Meinungsbildung bzw. die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für ein kommunikatives Anliegen.“

Oberstaatsanwalt Kuhli (Staatsanwaltschaft Siegen) begründete sodann auf zehn Seiten seine Revision gegen dieses Urteil, worauf der Leitende Oberstaatsanwalt Dr. Seesko (Generalstaatsanwaltschaft Hamm) ebenso wortreich erklärte, warum er der Revision seines Kollegen beitritt. Unmittelbar bevor die Revision nun vor dem Oberlandesgericht Hamm verhandelt werden konnte, haben die Staatsanwaltschaft Siegen und Generalstaatsanwaltschaft Hamm eine Rolle rückwärts gemacht und die Revision zurückgenommen. Bereits zuvor hatte das Verwaltungsgericht Arnsberg die Flugblattbeschlagnahmungen als rechtswidrig erklärt. Aufrufe zum Whistleblowing dürfen (und sollten) auch weiterhin verteilt werden!

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