Gewaltfreie Intervention

von Christine Schweitzer

Der Begriff der gewaltfreien Intervention fand in der deutschen friedensbewegten Debatte eigentlich erst nach 1989 Eingang, parallel zu den Entwicklungen in der Politik, militärisches Eingreifen in Konflikte hof- bzw. parlamentsfähig zu machen. Es waren der Irakkrieg 1991 und die Kriege im ehemaligen Jugoslawien, die das Interesse an gewaltfreier Konfliktaustragung weckten. Das Argument der Friedensbewegung war und ist einfach: Es gibt gewaltförmige Konflikte anderswo, bei denen wir nicht einfach zusehen dürfen, aber militärische Gewalt ist nicht die geeignete Antwort. Es gibt viele gewaltfreie Möglichkeiten, in solche Konflikte einzugreifen. Solche Möglichkeiten bestehen in den vielfältigen Methoden der zivilen Konfliktbearbeitung, sowohl in Vermittlung und Dialogförderung (Peacemaking), internationaler Schutzbegleitung von bedrohten Personen und Gemeinden (Peacekeeping), wie in den unzähligen Ansätzen und Methoden, die im Bereich des Peacebuilding entwickelt wurden.

Und es ging dabei nicht nur darum, was die Regierungen, die EU oder die Vereinten Nationen tun sollten oder könnten. Im Gegenteil, wenn von gewaltfreier Intervention gesprochen wird, dann geht es in erster Linie darum, was Zivilgesellschaft selbst an transnationalen Ansätzen und Möglichkeiten zur Verfügung steht. Dieses letzte ist vielleicht das, was die Entwicklungen in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts besonders auszeichnete – das rasche Anwachsen von Projekten und Initiativen, die sich nicht länger auf Proteste und Appelle an die Regierung im Heimatland beschränkten, sondern die vor Ort gingen – besonders in die Regionen des Landes, das bis 1991 Jugoslawien gewesen war - und dort zusammen mit lokalen Antikriegs- und Menschenrechtsgruppen gegen Krieg und Gewalt arbeiteten.

Gewaltfreie Intervention war allerdings bei weitem keine Erfindung, die erst zu diesem Zeitpunkt gemacht wurde. Ihre umfassende Geschichte muss erst noch geschrieben werden, aber auf jeden Fall lässt sie sich bis in die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts zurückverfolgen, als Gandhi seine Idee einer „Friedensarmee“ entwarf (die bei ihm theoretisch blieb, erst sein Nachfolger Vinoba  Bhave setzte die „Shanti Sena“ in die Praxis um). Anfang der 1930er Jahre versuchten englische AktivistInnen, von Gandhi beeinflusst, das erste Mal, eine „Friedensarmee“ auf die Beine zu stellen. (Der Anlass war damals der drohende Krieg zwischen Japan und China in der Mandjurai.) Gleichzeitig wandten sie sich an den Völkerbund mit der Aufforderung, eine solche unbewaffnete Friedensarmee zu schaffen. Es gab eine ganze Reihe ähnlicher Initiativen, wie bei Yeshua Moser-Puangsuwan nachzulesen ist. (Siehe Moser-Puangsuwan, Yeshua und Weber, Thomas (Hrsg.) (2000) Nonviolent Intervention Across Borders. A Recurrent Vision. Honolulu: Spark M. Matsunaga Institute for Peace.) Mindestens ein Dutzend solcher Initiativen ist in der Literatur dokumentiert, allerdings war keine von ihnen erfolgreich - die meisten scheiterten schon in der Organisationsphase. Das gleiche galt – und gilt bis heute – für die Versuche, internationale Organisationen (Völkerbund, Vereinte Nationen) für die Idee zu gewinnen, unbewaffnete „Streitkräfte“ aufzustellen.

Eine zweite „Traditionslinie“ gewaltfreier Intervention ist eine große Zahl spontan gebildeter Gruppen und Projekte – Friedensmärsche oder –karawanen und dergleichen. Es gab eine wahre Welle solcher Aktionen zwischen der Mitte der 1960er und 1970er Jahre: Zypern, Vietnam, Indien, der Nahe Osten und Nordirland waren die Länder, die das Ziel solcher Aktionen darstellten. Anfang der 90er Jahre kam es dann zu einer Reihe neuer Projekte, z.B. ein Friedenscamp, das an der Grenze zwischen Irak und Kuwait errichtet wurde, um einen Angriff der westlichen Staaten auf Irak zur Befreiung Kuwaits von dessen irakischer Besatzung zu verhindern, und verschiedene Märsche und Karawanen in Bosnien-Herzegowina während des dortigen Krieges. Die Zahl der TeilnehmerInnen an diesen Aktionen vor knapp zwanzig Jahren variierte stark. Die kleinste sah vielleicht 20 TeilnehmerInnen. An „Mir Sada“ („Frieden jetzt“), einer Friedenskarawane von vorwiegend italienischen und französischen AktivistInnen 1993 war mit knapp 2000 TeilnehmerInnen sicher die größte. Doch nur wenige von ihnen erreichten das gesteckte Ziel, mit LKWs und  Bussen durch die verschiedenen feindlichen Linien bis in das blockierte Sarajevo vorzudringen und dort humanitäre Hilfe zu leisten – aufgrund interner Streitigkeiten und des hohen Sicherheitsrisikos kehrte die große Zahl der Busse in Zentralbosnien um. Und die AktivistInnen im Irak mussten erleben, wie zuerst die Bomber über ihre Köpfe flogen, und sie dann schließlich von der irakischen Regierung des Landes verwiesen wurden. Auch diese Aktionen hatten in Bezug auf ihr Ziel, den bewaffneten Konflikt direkt zu beeinflussen, keinen Erfolg. Was sie aber leisteten, war, das Interesse „zu Hause“ an den Konflikten zu stärken. TeilnehmerInnen an solchen Aktionen, z.B. an der deutschen Initiative „Frieden am Golf“, deren Mitglieder 1991 kurz vor dem Irakkrieg nach Bagdad gingen, waren begehrte ReferentInnen und trugen dazu bei, dass das ferne Geschehen im Mittleren Osten der deutschen Friedensbewegung nah gebracht wurde.

Ein dritter Ansatz der gewaltfreien Intervention wird heute in erster Linie durch Peace Brigades International (PBI) repräsentiert, wobei es vor und neben PBI etliche weitere Organisationen und Projekte mit ähnlichen Ansätzen gibt. Ihr gemeinsamer Kern besteht darin, dass sie durch schützende Präsenz internationaler AktivistInnen Gewalt zu verhindern suchen. Die dahinter stehende Erfahrung ist, dass oftmals – nicht immer – die Anwesenheit internationaler BeobachterInnen Gewalt verhindern kann, besonders wenn es bei dieser Gewalt um Übergriffe von Polizei oder halbstaatlichen Organisationen (Todesschwadronen und dergleichen) handelt. Es geht hier also i.d.R. nicht wie bei den oben genannten Arten von Initiativen um die Verhinderung oder die Beendigung von Krieg generell, sondern die Verhinderung von Gewalt auf der Ebene von bedrohten Einzelpersonen, Menschenrechtsgruppen oder Gemeinden wie z.B. die Dörfer in Kolumbien, die sich zu Friedenszonen erklärt haben. Diese Arbeit ist äußerst erfolgreich, besonders PBIs Arbeit hat gewiss schon Hunderten von Menschenrechtsverteidigern die Weiterarbeit ermöglicht und vermutlich vielen von ihnen auch ganz konkret das Leben gerettet.

Dennoch ist die Vision, durch die Präsenz von unbewaffneten Zivilisten Krieg zu  verhindern, nicht gestorben. Sie war und ist u.a. die treibende Kraft in der Frühphase des deutschen Zivilen Friedensdiensts und der internationalen NGO Nonviolent Peaceforce gewesen – beide entstanden rund um die Jahrtausendwende, gingen aber sehr schnell sehr unterschiedliche Wege. Nonviolent Peaceforce (NP) sieht ihr Aufgabenfeld im Bereich dessen, was als „ziviles Peacekeeping“ bezeichnet werden kann und ist damit nah an der ursprünglichen Vision geblieben, obwohl auch bei NP keiner beanspruchen würde, dass die Organisation in der Lage wäre, Krieg zu verhindern, sofern eine Konfliktpartei diesen Krieg will. Sie ist in erster Linie (bislang) dort tätig, wo fragile Waffenstillstände durch Gewalt bedroht sind. Der Zivile Friedensdienst schlug eine andere Richtung ein: Mit seiner Verankerung als einem Instrument der Entwicklungszusammenarbeit und seiner Finanzierung durch das entsprechende Bundesministerium (BMZ) hat er sich dem weiten Feld des „Peacebuilding“ zugewandt. Seine Fachkräfte unterstützen lokale Organisationen in vielen Ländern der Welt in sehr unterschiedlichen Bereichen, von Trainings in Konfliktbearbeitung und Gewaltfreiheit über Medienarbeit, Dialogförderung oder Förderung von Zivilgesellschaft im allgemeinen bis zu Projekten, die vielleicht am ehesten im Bereich der Sozialarbeit anzusiedeln sind.

Gewaltfreies Sich-Einmischen in Konflikte kann natürlich auch noch andere Formen annehmen. „Bürgerdiplomaten“ versuchen, Vermittlungsdienste zu leisten. Mitglieder internationaler Netzwerke, von Frauen über Angehörige religiös motivierter Gruppen bis zu Kriegsdienstverweigerern, unterstützen sich gegenseitig in ihrer Arbeit, organisieren internationale Proteste, Konferenzen oder leisten ähnlich wie Amnesty international konkrete Solidaritätsarbeit, falls Angehörige ihrer Netzwerke festgenommen werden oder auf andere Art unter Druck geraten.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.