Hauptkundgebung

von Herbert Grönemeyer

Hallo, hallo, glück auf! Wenn man sich selber überlegt, warum bist du eigentlich hierhergekommen, dann ist es ir­gendwie ko­misch, weil man doch etwas von der gediegeneren Seite kommt, aber es ist so, daß ich hierhergekommen bin, um mir selber Mut zu machen, um zu sehen, wieviele Leute wirklich da sind und diesen neuen deutschen Mief endlich entgegen­zutreten, und um diese Leute so schnell wie möglich wieder dahin zurückzubringen, wo sie hergekommen sind! Für mich ist Demokratie: Eine Demokratie bleibt nur dann lebendig, wenn wir tagtäglich immer wieder neue Kultur zu­lassen und uns selber vitalisieren. Wenn man sein Leben im­mer nur mit sei­ner Familie zubringt, dann erstickt man lang­sam und das ein­zige "ich glaube, die Ausländer sind unsere Freunde und die Deutschen sind unsere Familie" - das kennt man selber von Weihnachten, da haut man sich meistens auf die Birne. Und ich glaube, es sind wirklich die Ausländer, die unsere Demo­kratie und Deutschland lebenswert machen! Und wer jetzt hingeht in so einer Phase, dieser sozialen Spannung in Deutschland und anfängt, darüber zu seiern, daß wir das Asyl­recht ändern müssen, der heizt die Menschen auf und er­klärt ihnen erstmal gar nicht, was da steht. Da steht schlicht und er­greifend: "Politische Verfolgte genießen Asyl." Das ge­nauso, als würde man ergänzen wollen: "Die Würde des Men­schen ist unantastbar." Ich weiß nicht, was man da groß er­gänzen will. Das sind Fakten und ganz simple Tatsachen! Und ich denke - das ist immer komisch, wenn man hier steht und so Reden schwingt, ich kann halt besser singen - hier wird ganz zynisch und unheimlich kalkuliert von den Politikern und unserer Re­gierung schon Wahlkampf gemacht. Hier wird ein ausländer­feindliches Klima geschürt und man versucht, die Leute, die wirklich in einer Situation sind, nämlich poli­tisch verfolgt zu sein - was wir uns noch nicht gut vorstellen können - diese Leute werden der Willkür und unserem Wohl­wollen überlas­sen. Ich glaube, diese ganze Aufheizung dient nur dafür, daß man in zwei Jahren diese vier, fünf Prozent am rechten Flügel erreicht. Wenn wir jetzt als Demokraten nicht losgehen und eindeutig den Rechten eine Absage erteilen, dann wundern wir uns, wie weit wir immer mehr nach Rechs abdriften. Aber ich denke, der Fisch stinkt immer vom Kopf. Und der Kopf sind wir selber. Wir sollten auch begreifen, daß wir diejenigen sind, die den Staat machen, und wir haben uns wohl diese Komiker gewählt. Aber nichtdestotrotz sind wir die Demo­kratie und wir sind dafür da, wie heute, klarzuma­chen: Wir wollen keine Änderung dieses Grundrechtes der Menschen. Und wir wollen uns geballt und gelassen diesen Leuten entge­genstellen, die glauben, sie können diesen neuen deutschen Mief und dieses Dumpf-Deutsche wieder aufhei­zen! Und wir sind bekannt dafür, besonders wir Sänger, daß wir immer sehr betroffen sind. Ich glaube man kann aufgrund dieser Ausschreitun­gen auch betroffen sein, aber wir sollten uns nicht in Betrof­fenheit flüchten, denn das lähmt. Sondern ich glaube, wie wir es heute sehen, wir werden mit dem Pro­blem locker fertig. Glück auf, ich bin ein Ausländer!

Das erste Lied, das ich spiele, das habe ich 1900 - nach dem Motto: Ich habs schon damals gewusst - aber es ist ein sehr altes Lied, es heißt "Onur". Es handelt von einem türkischen Jungen, der sich nicht mehr raus traut, weil wir schon vor der Tür stehen, und ihm einfach nicht mehr Mut machen und ihn Leben lassen.

(Es folgen "Tanzen", "Angst", "Luxus")

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