Hauptkundgebung

von Micha Brumlik

Liebe Freundinnen und Freunde!

Wenn wir heute für den kompromisslosen Erhalt des Art. 16,2 des Grundgesetztes demonstrieren, tun wir das weder leichtfer­tig noch aus schierer Prinzipienreiteri, sondern weil wir zei­gen können, daß dieser Artikel des Grundgesetzes, der die Lehre aus der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden und der politischen Opposition während des National­sozialismus zog, heute so gültig und richtig ist, wie vor 40 Jahren. Ohne die Verfolgungen, die heute überall auf der Welt stattfinden, mit dem Tun der Nationalsozialisten gleichzuset­zen, wissen wir doch, daß sich die Gestalt der Verfolgung zwar ändern kann, daß aber die Einsamkeit, Schutzlosigkeit und Ausgesetztheit der einzelnen Menschen gleich bleibt. Und deshalb, so fordern wir, sollen alle, die verfolgt werden, auch weiterhin das Recht auf ein faires und sicheres Gehör vor deutschen Gerichten finden. Zudem, die geplante - auch von der SPD mitgeplante - Verfassungsänderung droht, die politi­sche Kultur des Landes durch Opportunismus zu zerstö­ren und damit Antisemitismus und Fremdenhass zu steigern. Wer dem Rechtspopulismus nach dem Mund redet, fördert Fremdenhass und Judenfeindschaft.

Mit Bitburg, als sich Kohl und Reagan vor SS-Gräbern ver­neigten, fing es an. Mit dem Hi­storikerstreit, als sie die deut­schen Verbrechen relativierten, ging es weiter. Als auch "Wir sind das Volk" "Wir sind ein Volk" wurde, war die Stimmung so weit. Die Asyldebatte der CDU zündete die Lunte. In Hoyerswerda traf es die Asylbe­werber. In Rostock brannte es und traf die Asylberwerber. Dann brannte die erste jüdische Gedenkstätte. Schließlich wurde Ignaz Bubis antisemitisch angepöbelt. Wo soll das en­den, wenn das so weiter geht? Noch nie in der Geschichte hat man Fremdenhass und Antise­mitismus dadurch bekämpft, daß man Fremdenfeinde und Antisemiten auch nur im mindesten Recht gibt. Gewiss, Frem­denfeindlichkeit und Antisemitismus sind nicht dasselbe. Aber Fremdenfeindlichkeit führt zu Anti­semitismus und Anti­semitismus führt zu Fremdenfeindlich­keit. Dem Antisemitis­mus und der Fremdenfeindlichkeit nachzugeben, an der Ver­fassung herumzuklempnern in der Hoffnung, dadurch die Demagogie der Rühe, Waigl und Kohl aufzufangen, ist aber ebenso hoffnungs- wie verantwortungs­los.

In voller Anerkennung dessen, daß eine große Volkspartei wie die SPD in den Menschen Anklang finden muß, wei­sen wir aber darauf hin, daß das einzige Mittel gegen den Rechtsex­tremismus nicht in symbolischer Politik sondern nur in Sozi­alpolitik für die Deklassierten und in einer verstärkten Aufklä­rung der Menschen liegt. Der große Sozialdemokrat Eduard Bernstein sagte dazu schon vor 100 Jahren: "Die Stärke des Antisemitismus ist die Unklarheit, Unbestimmt­heit, Selbsttäu­schung über die Natur dieser Übel. Bei den Massen des Vol­kes wird der Antisemitismus nur da Anhang gewinnen, wo die Sozialdemokratie noch nicht Licht in die Köpfe gebracht hat."

Und deshalb Citoyens und Citoyennes unterstützen wir von hier all jene in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die der Verfassung und dem Rechtsstaat treu bleiben, den An­biederungsversuchen von rechts wider­stehen und damit - und nur damit - den besten und wirkungs­vollsten Beitrag zur Be­kämpfung von Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus liefern. Danke!

Renan Demirkan: Danke Micha Brumlik! An dieser Stelle ein kleines Zitat des türkischen Dichters, Nazim Hikmet: "Leben, einzeln und frei wie ein Baum, und brüderlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht." Der nächste Gast kommt von weit her. Geboren in Argentinien, Vater Italiener, Mutter In­dianderin. Er verließ das Land Argentinien 1976, getarnt als Puppenspieler über Mexiko nach Kanada. Heute lebt er in Ottawa. Er hat uns zwei Lieder mitgebracht: Das erste Lied handelt von den sog. Abfallkindern in Argentinien, die auf Müllhalden leben. Das zweite Lied von einer 17jährigen Freundin, die 1975 von Militärs umgebracht wurde. Bitte be­grüßt ganz herzlich: Dario Dominguez! Willkommen!

(Es folgt Musik: Dario Dominguez)

Dario Dominguez: Thank you very much. Muchas gracias. It is good to see you here today. I have a message for you from the people of south-america and the people of Canada. If you believe in freedom, if you believe in peace, if you believe in social justice, if you believe in love, please do not let germa­ney fall into the dirty hands of faschism!

Renan Demirkan: Danke Dario Dominguez! Warum sind wir hier? Wir sind hier, weil wir die Politiker auffordern wol­len, mit der Dämonisierung und Hysterisierung mit Zahlen aufzuhören. Nicht jeder auf dieser Welt, dem es nicht gut geht, will nach Europa oder gar nach Deutschland. In den ärmsten Ländern der Welt, z.B. in Afrika befinden sich 6 Mill. Flüchtlinge. In Asien 4,5 Mill. Flücht­linge. In Latein­amerika 2,5 Mill. Flüchtlinge. Nordame­rika 2 Mill. Flücht­linge und laut einer Statistik von 1990 kamen 1989 in ganz Europa knapp 900.000 Menschen. Bitte versachlicht die Dis­kussion. Danke.

Mani Stenner: Hört Ihr mir einen ganz kurzen Augenblick konzentriert zu. Wir von der Demonstrationsleitung haben wirklich ganz große Probleme mit Euch. - Ihr seid zu viele! Aber wirklich eine ganz ernsthafte Bitte: Die Menschen, die jetzt dort - vor allen Dingen auf der Seite zur Kirche, zur Len­néstraße, stehen unter den Bäumen. Das führt zu einem Rück­stau bis hin zum Kaiserplatz, bis zum Münsterplatz, bis in die Altstadt, wo der Zug aus Bonn-Nord noch steht. Das ist doch kein Grund zum Jubeln, wenn wir organisatorische Schwie­rigkeiten bekommen. Ich bitte Euch ganz dringend, unter den Bäumen, ganz am Ende des Hofgartens ist noch Platz. Rückt zusammen, dort hinten am Kunstmuseum. Geht auf den Ra­sen, von den Bäumen weg, damit die von der Straße noch zu Euch aufrücken können. Wir wollen doch alle zusammen hier sein. Danke. Sorgt dafür!.

Ausgabe

Derzeit ist Micha Brumlik Seniorprofessor am Zentrum für jüdische Studien Berlin/Brandenburg, Mitherausgeber der "Blätter für deutsche und internationale Politik" sowie regelmäßiger Kolumnist der "taz".