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Bürgerbewegung schließen sich europaweit zusammen
Helsinki Citizens Assembly in Prag
von"Am Anfang, vor zwei Jahren, waren wir 32 und saßen in einer Prager Arrestzelle. Denn wir hatten versucht, mit der demokratischen Opposition Osteuropas über ein ziviles und demokratisches Europa jenseits von Blockgrenzen zu diskutieren. Damals wurde die Idee der Helsinki-Bürgerversammlung geboren. Heute, im Oktober 1990, sind wir fast 1000, die nach Prag gekommen sind und versuchen nun diese Idee und die ganze Helsinki-Bewegung von unten mit Leben zu fÅllen. Es ist einfach unglaublich!" Mit diesen staunenden, zugleich stolzen Worten trifft die britische Friedensforscherin Mary Kaldor die Gefühle der Teilnehmer genau.
Drei Tage - vom 19. -21. Oktober - hatten die Vertreter von Frauen- und Ökologie-, von Bürgerrechts- und Friedensbewegungen in unzähligen Gesprächen und Diskussionen zu den verschiedensten Problemen und Tätigkeitsfeldern auf dem Weg zu einem integrierten und demokratischen Europa gearbeitet.
Zwei Themen jedoch Überlagerten immer wieder die anderen Probleme: wie lassen sich die zunehmend blutiger ausgetragenen nationalen und ethnischen Konflikte gewaltfrei lösen; sowie: wer gehört eigentlich zur Helsinki-Bürgerbewegung?
Das Strukturdilemma ist in der Tat unübersehbar. Es sind gerade die Gründer der Bürgerbewegungen in Ost- und Zentraleuropa, die im Verlauf der tiefgreifenden Umwälzungen des letzten Jahres in ihren Gesellschaften oft innerhalb von wenigen Tagen in höchste Staatsämter gerückt waren. Vaclav Havel, der heutige Staatspräsident der CSFR, der auch auf der Eröffnungsverstaltung zu den (früheren) Mitstreitern für Freiheit und Demokratie sprach, ist dabei nur das prominenteste Beispiel. Viele der Oppositionellen gehören heute im Prinzip zu denen, die Teilhabe an der ursprünglich abgelehnten verstaatlichen Macht haben. Sie selbst sehen das jedoch meist anders. Der frühere Sprecher der Charta '77 und heutige Außenminister der Tschechoslowakei Jiri Dienstbier bringt die neue Situation auf eine verblüffende Formel: "Die Bürgergesellschaft ist an der Macht!"
Vor allem westlichen Basispolitikern geht dies quer. Für sie drückt sich Bürgergesellschaft vor allem durch Staatsferne und Opposition zu etablierter Politik aus. Auf Minister, Staatspräsident und selbst Parlamentarier wirke - strukturell vorgegeben und daher nur bedingt vermeidbar - immer die Verführung der Macht und die Anpassung an vorgebliche Sachzwänge. Und das stehe nun mal im Gegensatz zu dem Ziel der Bürgerbewegung, eine zivile Gesellschaft Aufbau zu wollen.
Im Verlauf der Diskussion wurde aber deutlich: sowenig die Basis auf den direkten Zugang zu den politischen Entscheidungsebenen verzichten sollte, so sehr bedarf es der dauernden kritischen Begleitung und selbstbewu·te Ansprachen und Anforderung an die in "Macht"-Positionen sitzenden früheren Oppositionspolitiker. Der Konflikt ist in Prag nicht ausgeräumt worden. Es war auch gar nicht möglich, es sei denn, man wäre bereit gewesen, langjährige Mitstreiter aus dem gemeinsamen Projekt auszuschließen.
Für die Bürgerbewegungen Europas stellen die mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes vor allem in Osteuropa wieder aufbrechenden Nationalitätenkonflikte die größte Herausforderung an ihr Konzept dar. Die Divergenzen, mit denen sie fertig zu werden haben, sind extrem. Während viele westliche Bewegungen verstärkt die Perspektive eines Nationalstaates ohne Armee (z.B. BoA - Bundesrepublik ohne Armee) anstreben, begreifen Vertreter aus dem Baltikum das Ziel einer baltischen Armee letztlich als Ausdruck der Wiederherstellung ihrer 1940 zerstörten nationalen Identität. Während in West- und Mitteleuropa der Abzug der sowjetischen Truppen gefeiert wird, stellt sich das für die Balten ganz anders dar. Elvira Liiver von der estischen Frauenliga aus Tallin beschreibt deren Sicht: „Nunmehr steht ein großer Teil dieser sowjetischen Soldaten auf unserem Territorium. Nicht nur, dass das unsere Nationalgefühle verletzt, es bringt auch zusätzliche soziale Probleme. Auf fünf Zivilisten Estlands kommt nunmehr ein Soldat. Kriminelle Übergriffe der Soldaten gegen die Zivilbevölkerung nehmen rapide zu. Die Spannungen zwischen den beiden Gruppen steigen ins Unerträgliche. Es fehlt nur noch der Funke. Dann geht dieses Pulverfass in die Luft!"
Die Bürgerbewegungen, die sich in dieser KSZE von unten zu organisieren beginnen, wissen, da· jetzt Grundlagen zu legen sind, die es ermöglichen unter Anerkennung der verschiedenen Interessen und Bedürfnisse, die Konflikte gewaltfrei austragen zu lassen. Wichtig sei es deshalb Überhaupt erst einmal ein Forum zu schaffen, wo die verschiedenen Interessen als legitim anerkannt und ausgetragen werden können. Nationale Konflikte dürften nicht mit gewaltsamen Mitteln unterdrückt werden. Es gelte vielmehr durch Offenlegung der Ursachen, die Konflikte zu entschärfen.
Deshalb soll versucht werden, unter dem Dach der Helsinki-Bürgerversammlung ein "Forum der europäischen Versöhnung" aufzubauen, Es hätte die Aufgabe die "Schirmherrschaft" über die jeweils zu organisierenden Dialogen und Begegnungen der beteiligten Kontrahenten zu übernehmen, z.B. für die des Baltikums. Dies ermögliche Überhaupt erst einmal die notwendige gemeinsame, gerade kontroverse Konfliktbeschreibung. Erst dann ließen sich Wege zur eigentlichen Konfliktbeilegung finden."
Die Bürgerbewegungen bieten den 35 KSZE-Regierungen den Dialog an. In einem Brief teilen sie ihnen jedoch auch ihren Anspruch mit, von nun an das zukünftige Europa von unten aus selbst mitzugestalten. Sie wollen ein integriertes, soziales, demokratisches und entmilitarisiertes Europa der Menschen und Völker schaffen und nicht eines der Bürokratien. Sie haben jetzt begonnen, sich eine dauerhafte Organisationsstruktur aufzubauen. Ein Sekretariat arbeitet weiterhin in Prag, sechs permanente internationale Arbeitskommissionen haben ihre Tätigkeit aufgenommen: Entmilitarisierung und Friedenspolitik. Ökologie und Ökonomie, Probleme des Nationalismus und der zukünftigen Strukturen eines demokratischen zivilen Europas, Menschen- und Minderheitenrechte, Gleichberechtigung der Frauen sowie politische Perspektiven und Strategien einer Bürgergesellschaft in Europa. Nunmehr fehlt eigentlich nur noch die Basis der Bürger - diese zu schaffen ist die Aufgabe der nächsten Zukunft, nicht zuletzt in Deutschland.