Blickpunkt

Humanitäre Phrasen und Kriegsschiffe

von Dirk Vogelskamp

Im April ertranken erneut über tausend Menschen im Mittelmeer. Sie haben den verzweifelten Versuch, nach Europa überzusetzen, um Elend und Gewalt in ihren Herkunftsregionen zu entkommen, mit ihrem Leben bezahlt. Eine Flucht in den grausigen Tod, hingenommen von einem apathischen Europa, dessen Migrationspolitik diese humanen Desaster zuallererst provoziert.

Nur wenige Tage später, am 23. April 2015, trafen sich die Staats- und Regierungschefs zu einer außerordentlichen Tagung des Europäischen Rates, um über ein europäisches Vorgehen angesichts der neuerlichen Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer zu beraten. Zu Beginn ihres Treffens hielten sie eine Schweigeminute für die Opfer ab. Dann beschlossen sie, die Seenotrettung aus Grenzschutz- und Marineeinheiten vor der europäischen Küste auszuweiten, in zivil-militärischen Operationen die Schleuser zu bekämpfen und ihre Kähne zu zerstören. Dazu soll das europäische Grenzregime künftig noch weiter auf nord- und westafrikanische Staaten ausgedehnt werden, um in migrationspolitischer Kooperation mit den Herkunfts- und Transitstaaten Flüchtlinge bereits abzufangen, bevor sie sich auf die Fahrt über das Mittelmeer begeben. Jean-Claude Juncker, der wortgewaltige Kommissionspräsident, wertete die Stellungnahme der europäischen Staats- und Regierungschefs als „Betroffenheitslyrik“, die die Probleme nicht lösen werde.

Krisenmanagement
Die EU-Kommission selbst legte am 13. Mai 2015 ein Strategiepapier mit dem Titel „A European Agenda on Migration“ [COM(2015) 240 final] vor, mit dem innerhalb der EU die migrationspolitische Stoßrichtung kommuniziert werden soll. Es zielt einerseits auf einen verstärkten Einsatz zur Seenotrettung durch Marine- und Frontex-Einheiten in den europäischen Küstengewässern. Aktuell werden Flüchtlingsboote, nachdem sie aufgebracht und die Flüchtlinge an Bord geholt worden sind, von den deutschen Marineeinheiten auf See zerstört. Zugleich schlägt die EU-Kommission ein bürokratisches Umsiedlungssystem vor, mit dem eindeutig schutzwürdige Flüchtlinge („in clear need of international protection“) in „Notsituationen“ in den Aufnahmestaaten an den Außengrenzen auf andere EU-Staaten verteilt werden sollen – vorerst ein Projekt auf Freiwilligkeit, da viele Mitgliedsstaaten gar nicht bereit sind, zusätzlich Flüchtlinge aufzunehmen. Darüber hinaus sollen die Kompetenzen der EU-Grenzschutzagentur „Frontex“ ausgeweitet werden. Frontex soll verstärkt in die „Rückführung“ von Flüchtlingen einbezogen werden, die keinen Schutzanspruch geltend machen können. Zudem werden die Mittel für die aktuellen Frontex-Grenzschutzeinsätze erhöht. Zentral aber ist der EU-Kommission, die Schleppernetzwerke und deren Schiffe sowie Ausrüstungen zu neutralisieren. Möglichst schon in libyscher Küstennähe und darüber hinaus.   

Nur fünf Tage später trafen sich die europäischen Außen- und Verteidigungsminister am 18. Mai 2015 in Brüssel unter dem Vorsitz von Federica Mogherini, High Representative for Foreign Affairs and Security Policy, kurz: die EU-Außenbeauftragte der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie berieten über „Maßnahmen zu Migrationsfragen“ und konkretisierten die militärischen Pläne, Schlepperboote zu identifizieren, aufzuspüren und zu zerstören. In einem geheimen Vorbereitungspapier der EU-Außenbeauftragten, das im „Political and Security Committee“ Zustimmung fand, sind auch Einsätze von Spezialkräften auf dem Territorium Libyens vorgesehen, und fester Bestandteil der militärischen Planung ist, die irreguläre Migration über das Mittelmeer zu bekämpfen. Während Federica Mogherini nach dem Treffen versicherte, dass es keinen Bodeneinsätze geben werde („no boots on the ground“), sondern lediglich „EU-Operationen“ auf See, spricht das Planungspapier eine deutlich kriegerische Sprache. Dazu bemüht sich die EU-Außenbeauftragte um ein Mandat des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel VII. 

Die Beratungen der europäischen Gremien zeigen die Absicht, die Abwehr irregulärer Migration nach Europa im Krieg gegen die Schleuser- und Schleppernetzwerke weiter zu militarisieren. Fluchtmigrationen sollen möglichst schon weit im Vorfeld auf afrikanischem Boden verhindert werden. In diesen Kontext gehören die seit Jahresbeginn erneut angestoßenen Diskussionen um exterritoriale „Asylzentren“. Denn wie der deutsche Außenminister Steinmeier in der Debatte zurecht bemerkt, sei „ein europäisches Eingreifen auf dem Mittelmeer“ bereits zu spät (Die Welt, 17. Mai. 2015). Die Zerstörung von Schleuserbooten, bevor sie eingesetzt werden können, oder ihr gewaltsames Aufbringen auf See, birgt auf jeden Fall die Gefahr, dass Unbeteiligte und Flüchtlinge in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Soll ihr Tod in Kauf genommen werden?

Migration nach Europa verhindern
Nun sind das alles vorerst Pläne, die irreguläre Migration zu unterbinden, indem, ohne zwischen Menschenhandel und Schmuggel zu differenzieren, die Schlepperorganisationen angegriffen werden sollen, ohne die sich Menschen überhaupt nicht auf die Flucht nach Europa begeben könnten. Denn legale und sichere Wege gibt es nicht. Als ob die menschliche Suche nach Schutz (Asyl) und Überleben allein dadurch verschwände, dass den Menschen ihre Transportmittel genommen werden. Die Menschen auf der Flucht wären menschenrechtswidrig dazu verdammt, in einem durch hunderte Milizen destabilisiertem Land zu verharren, und dadurch in ihrem Leben und ihrer Freiheit höchst gefährdet. Auch der Versuch, in Kooperation mit den Herkunfts- und Transitstaaten (illegale) Migration zu kriminalisieren und zu unterbinden, lässt sich nicht mit den bestehenden Menschenrechten vereinbaren. Allein die Suche nach Schutz, die auch irreguläre Mittel und Praktiken beinhalten kann, darf nicht kriminalisiert werden. (1) Es geht Europa eben primär nicht um den Schutz der Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten, sondern um den Schutz Europas vor ihnen. Dazu werden nun selbst Militäreinsätze erwogen. „Europa ist eine Festung – und muss es auch bleiben“, unter dieser Überschrift kommentiert Dirk Schümer (welt-online 18. Mai 2015) die Vorhaben der Europäischen Union. Illegale und unkontrollierte Zuwanderung sei kein Menschenrecht, sondern führe in den unerklärten Bürgerkrieg. Noch (!) dürften wir uns Europa als Festung des Wohlstands, des Rechts und des Friedens vorstellen. Europa bedürfe dringend definierte und gesicherte Grenzen. Sicherlich keine ungeteilte Meinung. Gleichwohl bleibt die Frage, ob wir tatsächlich ein solches Europa abseits von Menschenrechten und Humanität wollen, das einen verdeckten und offenen Krieg gegen Flüchtlinge einschließt? Anders gefragt, sind wir bereit für unsere Lebensweise nicht nur auf menschenrechtliche Prinzipien zu verzichten, sondern auch Tod und Elend von Millionen anderer Menschen hinzunehmen? (2)     

 

Anmerkungen
1 Vgl. Mariagiulia Giuffré and Cathryn Costello, 'Tragedy' and responsibility in the Mediterranean, www. opendemocracy.net.

2 Dirk Vogelskamp, Die Unerwünschten und das Desaster einer europäischen Flüchtlingspolitik, in: gwr 399, April 2015, S. 2. 

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Im Blickpunkt
Dirk Vogelskamp ist Referent des Komitee für Grundrechte und Demokratie.