Eine Argumentationshilfe

Iran: Von Angreifern und Angegriffenen

von Christine Schweitzer

In den letzten Monaten ist der Iran als möglicher neuer Schauplatz der Kriege im Nahen und Mittleren Osten durch die Schlagzeilen der Massenpresse in das allgemeine Bewusstsein gerückt. Dass der Iran, der seit Ende der 50er Jahre (!) ein Atomprogramm hat, an einer Wiederaufbereitungsanlage arbeitet, ist schon seit Langem bekannt (1), und auch, dass er zwar 1970 den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnete, Inspektoren der Atomenergiebehörde (IAEA) aber wiederholt Überprüfungen verweigerte. Seit ungefähr November 2011 wurde in Israel begonnen, öffentlich über einen Angriff auf den Iran nachzudenken. Das Ziel dieses Artikels ist, die Argumente der Debatte Revue passieren zu lassen und eine Argumentationshilfe zu geben. Die Frage der Alternativen klammere ich dabei weitgehend aus, da sie an anderer Stelle in diesem Heft (s. Artikel von Otmar Steinbicker, Iran-Erklärung) diskutiert werden.

Die Friedensbewegung hat auf die Möglichkeit eines neuen Krieges in der Region mit großer Sorge reagiert. Die Erklärung zum Iran der Kooperation für den Frieden wurde als Anzeige Ende März sowohl im Freitag wie in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht. Sie fand viel Zustimmung, auch wenn einigen der UnterstützerInnen eine Anerkennung der Bedrohungsängste Israels, eine explizite Verurteilung jeglicher auf Atomwaffen gerichtete Bestrebungen Irans, die Rolle deutscher Firmen bei der Entwicklung des iranischen Atomprogramms und eine deutliche Kritik an der zivilen Nutzung der Atomenergie fehlte.

Aber es gab auch heftige Angriffe auf die Erklärung, die schon mal einen Vorgeschmack auf das gaben, was dann nach der Veröffentlichung von Günther Grass‘ Gedicht „Was gesagt werden muss“ (2) passierte. Den Anfang machte Micha Brumlik in einem Artikel in der Taz (3), Briefe ähnlichen Inhalts an die AutorInnen und / oder einzelne ErstunterzeichnerInnen folgten. Kern der Vorwürfe war, dass die Bedrohungssituation in ihr Gegenteil verkehrt werde: Nicht Israel, oder die USA und Europa bedrohten den Iran, sondern der Iran bedrohe durch seine Aufrüstung Israel und den Weltfrieden.

Baut der Iran an einer Atombombe?
Die Süddeutsche Zeitung schrieb am 25.2.2012: „Neue Erkenntnisse der CIA und anderer Dienste des Landes bestätigten die Einschätzung der Lage aus dem Jahr 2007, wonach Iran sein Atomwaffenprogramm schon vor Jahren eingestellt habe. Der US-Geheimdienstdirektor James Clapper hatte Ende Januar erklärt, dass sich Iran zwar noch alle Optionen offen halte. Es gebe aber keine Hinweise, dass Teheran die Entscheidung getroffen habe, ein Programm zum Bau der Bombe zu beginnen.“(4).

Das heißt natürlich nicht, dass ausgeschlossen werden kann, dass der Iran dieses Ziel doch verfolgt. Ja es wäre sogar plausibel, zu argumentieren, dass die derzeitige Diskussion den Iran leicht zu der realpolitischen Folgerung veranlassen kann, solche Waffen zu bauen, weil er dann auf den Abschreckungseffekt setzen kann. Über entsprechende Trägersysteme (Raketen) verfügt der Iran bereits (5), auch wenn die oft erwähnten Raketentests zur Jahreswende 2011/12 solche von Mittelstreckenraketen waren.(6)

Irans Haltung gegenüber Israel
Es ist schon vielfach daraufhin gewiesen worden, dass die oft zitierte Äußerung von Ahmadinedschad aus 2005, in der er angeblich die Auslöschung Israels forderte, auf einer falschen Übersetzung beruht. Gewöhnlich wird berichtet, er habe gesagt, dass Israel von der Landkarte radiert / getilgt werden müsse. KennerInnen des Farsi weisen darauf hin, dass die korrekte Übersetzung laute: „Dieses Besatzerregime muss von den Seiten der Geschichte (wörtlich: Zeiten) verschwinden“. (7)  Es mag sein, dass dieses Zitat mit etwas gutem Willen anders als eine Drohung gegen das Existenzrechts Israels ausgelegt werden kann, sondern lediglich meine, dass die Besatzung der palästinensischen Gebiete beendet werden müsse. Leider steht dieses Zitat nicht allein. In der westlichen Presse gibt es eine lange Liste von vergleichbaren Zitaten von Ahmadinedschad und anderen führenden Politikern des Irans.(8)

Doch solche Äußerungen sind in der islamischen Welt, die kaum etwas so eint wie der Konflikt mit Israel, nicht selten. Sie dürfen nicht mit einer konkreten Absicht verwechselt werden. Und eine solche Absicht hat dem Iran niemand bislang konkret unterstellen können – auch die Unterstützung von antiisraelischen Terroristen reicht da als Beleg nicht aus.

Bedrohungsängste Israels
Die Konfrontation zwischen den beiden Ländern kann nur verstanden werden, wenn die Bedrohungsängste, die in Israel herrschen, ernst genommen werden. Israel ist seit seiner Gründung dreimal angegriffen worden (9), davon einmal von einem Land, mit dem es keine Grenze teilt: Während des sog. Zweiten Golfkriegs 1991 (vom UN-Sicherheitsrat sanktionierter Angriff auf den Irak, um dessen Besetzung Kuwaits rückgängig zu machen) wurde es Opfer von irakischen Scud-Raketen. Es ist wohl vor allem auch diese Erinnerung, die in Israel ein Gefühl der Bedrohung durch den Iran am Leben erhält.(10).

Darüber sollte aber nicht vergessen werden, dass viele Menschen in Israel und Juden in anderen Ländern einen Militärschlag gegen den Iran ablehnen.(11)

Bedrohungsängste Irans
Hat der Iran Grund, sich bedroht zu fühlen? Zumindest seit der öffentlichen Diskussion in Israel um einen Militärschlag gegen seine Nuklearanlagen kann diese Frage ohne Zweifel bejaht werden. Auf seine Ende Dezember 2011 ausgesprochenen Drohung, in einem Kriegsfall den Golf von Hormus zu verminen oder zu sperren, reagierten die USA prompt mit der Entsendung von Kriegsschiffen.(12) Dazu kamen in den letzten Jahren Angriffe mit Computerviren (13) und die Ermordung von vier Wissenschaftlern aus dem Atomprogramm zwischen 2010 und 2012.(14)

Israels Atomwaffen
Grass’s Behauptung eines nuklearen Erstschlags durch Israel sind auch in der Friedensbewegung als überzogen auf Kritik gestoßen.(15) Aber genauso Unfug ist es, wenn manche KritikerInnen in Zweifel ziehen, ob Israel überhaupt Atomwaffen besitze. 2006 sprach sogar der damalige Premierminister Ehud Olmert bei seinem Deutschlandbesuch von Israel als Atomwaffenmacht.(16) Die Zahl der vorhandenen Atombomben kann nur geschätzt werden und dürfte zwischen 75 und 500 liegen.(17)

Kriegsszenarien
Das wohl beschränkteste Szenario ist, dass allein die Anlage zur Anreicherung von Iran bombardiert und zerstört werde (wie es Israel schon in Syrien 2007 getan hat), und dass es zu keiner militärischen Gegenreaktion des Irans komme.

Ein mittleres Szenario würde von Bombardierungen des Landes über einige wenige Wochen ausgehen, mit dem Ziel, alle militärische Kapazität des Irans zu vernichten (und evtl. auch das Regime zu stürzen).

Demgegenüber warnen manche Experten vor einem dritten Szenario. So Nahostexperte Michael Lüders: „Ein Krieg gegen den Iran würde sich über Monate und Jahre erstrecken und er würde die gesamte Region zum Explodieren bringen. Das hätte verheerende Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Es wäre ein Krieg, der politisch nicht mehr einzudämmen wäre, wie bei einer chemischen Kettenreaktion. Das ist ein ganz anderes Kaliber als der Krieg gegen den Irak oder Afghanistan. Ein solcher Angriff würde das Jahrhundert prägen, wie der erste Weltkrieg das vorige Jahrhundert geprägt hat.“ (18) Ähnlich warnte auch der langjährige Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Mohammed al-Baradei, Israel eindringlich vor einem Krieg gegen den Iran: „Das würde die gesamte Region zerfetzen.“ (19)Vorgeschobene Gründe?

Zu bedenken ist auch, inwieweit es den Regierenden in Israel überhaupt wirklich um die Möglichkeit geht, dass der Iran eine Atombombe bauen könnte? Geht es vielleicht im Kern vielmehr „imperiale Vorherrschaft in der Region, um ‚Regime Change‘ a la Irak, und um die Tendenz der israelischen Regierung, von ihren ungelösten Problemen z.B. mit den Palästinensern abzulenken“? (20) Diese Fragestellung legt ein Entweder-oder nahe, aber nach meiner Überzeugung stehen die beiden Interpretationen nicht wirklich gegeneinander. Es gibt zweifellos Bedrohungsängste, und genauso zweifellos gibt es diese geostrategischen Interessen. Dass beide sich ergänzen, macht das Gemisch gerade so explosiv.Spekulationen über den Zeitpunkt

Was den Zeitpunkt eines möglichen Angriffes angeht, so ist die gängigste Vermutung, dass vor den US-Wahlen nichts passieren werde, weil Obama erst einmal die Wahlen abwarten wolle, politisch in der Wahlkampfzeit eh nicht handlungsfähig sei und er fürchte, dass die ökonomischen Folgen eines neuen Krieges seine Chancen auf eine Wiederwahl weiter reduzieren würden. Es gibt aber auch Stimmen, dass „nach einer möglichen Wiederwahl Obamas [die Israelis] vermutlich große Probleme [hätten], die Amerikaner davon zu überzeugen, sich am Krieg zu beteiligen“.(21) Und es gilt auch zu bedenken, dass Krieg schon immer ein gutes Mittel war, von innenpolitischen Problemen abzulenken und eine Welle patriotischer Euphorie zu erzeugen, die eine Wiederwahl befördern kann. Und außerdem ist es heutzutage eher selten, dass Kriegshandlungen vorher angekündigt werden – je überraschender ein Angriff, desto größer sind i.d.R. seine Erfolgsaussichten. Aus diesen Gründen würde ich davor warnen, sich allzu sehr in Sicherheit zu wiegen, dass vor November ‚schon nichts passieren wird‘.

Anmerkungen
1) Siehe http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Iran/schmidt.html. Erste Berichte über Arbeiten zur Anreicherung von Uran stammen von 2002. Sie wurden zwischenzeitlich, einem Vorschlag der EU folgend, ausgesetzt, aber 2005/2006 wieder aufgenommen. Seitdem hat sich der UN-Sicherheitsrat immer wieder mit dem Thema beschäftigt.

2) Zu der sachlichen Kritik kamen die ganzen persönlichen Diffamierungen gegen Grass, dem aufgrund seiner (lange verschwiegenen) Mitgliedschaft als Jugendlicher in der Waffen-SS und seiner Behauptung, dass er mit seinem Gedicht das Tabu brechen wolle, Israel als Deutscher nicht kritisieren zu dürfen, in vielen Polemiken unterstellt wurde, ein Antisemit und/oder verkappter Nazi zu sein. Die beste Antwort auf diesen Unfug hat vielleicht der israelische Intellektuelle Uri Avnery in seinem auf www.aixpax.de nachzulesenden Beitrag verfasst.

3) http://www.taz.de/!90830/

4) http://www.sueddeutsche.de/politik/atomstreit-mit-iran-cia-zweifelt-an-t... [Zugriff 25.2.2012].  Siehe auch  http://articles.cnn.com/2012-02-19/middleeast/world_meast_iran-nuclear_1... [Zugriff 23.4.2012]; Interview mit Michael Lüders, http://www.tagesschau.de/iraninterview104.html

5) Die Shahab-3/3B mit einer Reichweite bis zu 2.100 km; siehe http://en.wikipedia.org/wiki/Aerospace_Force_of_the_Army_of_the_Guardian...

6) Siehe http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-01/iran-raketentest

7) Siehe http://www.sueddeutsche.de/kultur/umstrittenes-zitat-von-ahmadinedschad-...

8) Siehe http://de.wikiquote.org/wiki/Mahm%C5%ABd_Ahmad%C4%AB-Ne%C5%BE%C4%81d

9) Der sog. Israelische Unabhängigkeitskrieg direkt nach der Ausrufung des Staates 1948-49; der Jom-Kippur-Krieg von 1973 und 2001 während des Irak-Krieges. Dazu kamen der Sechstagekrieg von 1967, in dem Israel der Angreifer war, allerdings angesichts einer höchst gespannten und militärisch eskalierten Bedrohungslage an allen Grenzen; und die wiederholten Kampfhandlungen im Libanon einschließlich des Libanon-Krieges 1982 und die beinahe ständigen Auseinandersetzungen um den Gaza-Streifen.

10) Siehe z.B. den Artikel des früheren israelischen Botschafters in den USA, Moshe Arens, http://jer-zentrum.org/ViewBlog.aspx?ArticleId=95

11) ‚Anti-war movement stirs in Israel‘, http://www.ft.com/cms/s/0/6598b044-768b-11e1-8e1b-00144feab49a.html#axzz... Jewish Statement about Attacking Iran, March 5, 2012, in Deutschland publiziert von www.juedisches-forum.de

12) http://www.focus.de/politik/ausland/nahost/flugzeugtraeger-abraham-linco...

13) http://www.sueddeutsche.de/digital/hacker-attacke-iran-meldet-cyberangri...

14) http://www.sueddeutsche.de/politik/attentat-in-teheran-iranischer-wissen...

15) Siehe z.B. Otmar Steinbickers „Günter Grass hat ein Gedicht geschrieben“ vom 5. April (www.aixpaix.de).

16) Siehe http://www.tagesspiegel.de/politik/die-atomprogramme-israels-und-irans-w...

17) Clemens Ronnefeldt (2010) ‚Die israelischen Atomwaffen‘. In: FriedensForum 2/2010, S. 39-41, und der Kasten ‚Anzahl der Atomwaffen‘ auf Seite 36.

18) Lüders, a.a.O.

19) Quelle: http://www.welt.de/channels-extern/ipad3_welthd/a_welt_ipad3/politik_a_i...

20) Zitat eines Diskussionsbeitrages auf der internen Liste der Kooperation für den Frieden.

21) Lüders, a.a.O.

[Zugriff auf alle Seiten zwischen 18. und 24.4.2012]

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Rubrik

Krisen und Kriege
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.