Islamischer Staat

IS ohne Kalifat – die Nachwirkungen

von Karl Grobe

Das Kalifat ist gescheitert, die Anmaßung, in der Nachfolge des Propheten Mohammed einen neuen Staat aufzubauen und eine glaubensstrenge Gesellschaft mit äußerster Gewalt zu errichten, ist in Syrien und Irak fehlgeschlagen. Doch die Ideologie, mit der das sich selbst so nennende Kalifat sich zu rechtfertigen versucht hat, findet Nachahmer. In Syrien und Irak sind zahllose kleine und nicht ganz kleine Gruppen mit einer vergleichbaren Ideologie übrig geblieben. Die geographische Fläche schwindet. Doch in vielen Köpfen behauptet die daher stammende Denkweise ihr Territorium.

Anders als die unter dem Namen Al Qaeda zusammengefassten Terrorgruppen hat der IS sich eine Infrastruktur geschaffen, die auch ohne eigenes Herrschaftsgebiet funktioniert. Dazu gehören Internet-Auftritte wie das Magazin Dabiq ebenso wie ein offenbar hierarchisch gegliedertes Netz von Werbern, Informanten, Organisatoren, Geldbeschaffern usw. Es folgt in weiten Teilen der „exakten Wissenschaft der Guerilla-Kriegführung“, die der in der Sache erfahrene T. E. Lawrence vor rund neunzig Jahren in der höchst seriösen Encyclopaedia Britannica dargelegt hat. Die Rebellion benötige eine unangreifbare Basis (die aktuell durch das Internet und eigene abgeschirmte Vernetzungen virtuell darstellbar ist). Ihr steht ein hoch entwickelter Feind gegenüber, dessen militärische Mittel aber nicht zur vollständigen territorialen Kontrolle terroristischen Handelns reichen. Sie brauche eine freundliche Bevölkerung; es genüge, dass 2% aktiv kämpfen und 98% passiv sind, dabei mit der Guerilla sympathisieren oder sie wenigstens nicht verraten. Die Militanten aber, „die wenigen aktiven Rebellen“, müssen schnell, ausdauernd, allgegenwärtig und von Nachschublinien unabhängig sein. Sie müssen waffentechnisch in der Lage sein, die Verbindungslinien des Gegners zu zerstören oder lahmzulegen. Nicht zuletzt benötigen sie eine „Doktrin (die Idee, jeden Bürger zur Freundlichkeit zu bekehren)“, also eine Ideologie.

Dieses trockene Fazit aus dem (britisch-) arabisch-türkischen Krieg vor hundert Jahren ist ernüchternd aktuell – und zugleich bestürzend harmlos: Es stellt die Angelegenheit als einen heroischen Randaspekt des gewöhnlichen Krieges dar, selbst wenn dieser ein Weltkrieg von bis dahin höchst ungewöhnlicher Brutalität war. Es beschreibt „nur“ die technische Seite des Kampfes.

Über die Enttäuschung und Radikalisierung zahlloser seiner arabischen Mitkämpfer von 1916 sagt Lawrence an dieser Stelle nichts; an anderem Ort aber sehr wohl. Das geht auf die Vereinbarungen zwischen den späteren Siegermächten Großbritannien und Frankreich zur Aufteilung des Nahen Ostens und damit den Verrat an den Arabern – Guerilleros ebenso wie Machthaber – zurück. Das Misstrauen gegen westliche und stets imperialistische Politik liegt den Aufständen der vergangenen Jahrzehnte zugrunde; es kondensierte sich nach den Bush-Kriegen in jenem Krieg gegen „die Globalisierung“, also die Verfestigung und Verbreiterung der wirtschaftlichen und politischen Macht der westlichen – imperialistischen – Staaten in der Region. Jenem Krieg, der ideologisch Freiheitskampf sein soll und sich in Terror und vorgeblich islamistischer Sektiererei äußert. Die Ideologie besteht meistens aus einer bis zur Unkenntlichkeit vereinfachten Abart oder Ableitung der wahhabitischen Lehre, Islamismus, nicht Islam; nämlich ein politischer Extremismus, der sich religiöser Formeln lediglich zur Rekrutierung immer neuer (meist jugendlicher) Militanten und zur Rechtfertigung bedient, unduldsam, fanatisch, gewaltbereit. Im Verweis auf „das Kalifat“ haben dessen Verfechter Tausende junger Militante gewonnen, denen in der Heimat keinerlei Hoffnung auf beruflichen, bildungsmäßigen oder ganz einfach zivilen Aufstieg („Integration“) bleibt. Der Weg in den „heiligen Krieg“ scheint plausibel als Ausweg aus der Misere und wird verherrlicht durch die dafür zurechtgeschnittene Ideologie. Die Kämpfer kommen aus Nordafrika, Zentralasien und Westeuropa, hier meist aus dem erwähnten sozialen Umfeld. Ob Tunesier, Tschetschenen, Belgier oder Deutsche – ihre Verbitterung wird durch Schulung und Praxis in terroristisches Handeln und Selbstidentifikation umgeleitet. Wo dschihadistische Thesen gepredigt und gelehrt werden, ist der Weg einfach zu finden, auch aus den banlieues der Metropolen, und der Rückweg ist meist gerade nicht durch „Läuterung“ im Sinne des westlichen Selbstverständnisses geprägt.

Die Rückkehrer aus dem syrisch-irakisch-türkischen Krieg haben den Umgang mit den Mitteln des Terrors nicht umsonst gelernt. Wenn es zutrifft, dass das größte Kontingent an Jungdschihadisten aus Tunesien zugewandert war und dorthin zurückkehren wird (oder schon wieder da ist), dann steht der nächste funktionierende Staat vor dem Dilemma, entweder zu zerfallen oder an überdurchschnittlicher Sicherheit zu ersticken: failed state oder Diktatur. Rückkehrer können der Zünder sein, der ein explosives soziales Gemisch zündet – keine Revolution, sondern im Gegenteil die Festigung der politischen und gesellschaftlichen Macht eben der Machtelite, die für das soziale Desaster verantwortlich ist. Die Erben des Gebildes, das als IS, Kalifat, Daesch, ISIS usw. bekannt geworden ist, treten die Nachfolge an. In dieser Gestalt überlebt IS den eigenen Untergang. Nicht nur in Nordafrika und Nahost.

Nicht alle Rückkehrer sind so eng an Ideologie und Praxis des IS gebunden. Im Gegenteil, nur eine Minderheit unter ihnen landet in der Kategorie, die mit einem Neuwort als „Gefährder“ bezeichnet wird. Und während sie in ihren ursprünglichen Herkunftsländern in Europa Rechtsradikale, Nationalisten, Populisten und andere Parteien sowie selbstverständlich die Ermittlungsbehörden weit über ihre tatsächliche Bedeutung hinaus beschäftigen – Lieblingsthema der Populisten aller Art –, schafft ihre Anwesenheit in weniger stabilen Staaten wirkliche Gefahren. Wenn Korruption, Diktatur und die mit ihr einhergehende Willkür, Verelendung und Ausgrenzung andersdenkender Minderheiten das jeweilige System hinreichend aus der Ordnung geworfen haben, dann bietet sich für eine Reihe von „Aktivisten“ der Griff in die Werkzeugkiste des Terroristen an.

Einerseits setzt sich das virtuelle Kalifat nach dem Verschwinden des konkreten in den besagten Rückkehrern und ihren neu gewonnenen Genossen fort; da befeuert jenes angeblich islamistische, salafistische, dschihadistische usw. Denken die Aktion. Von Nigeria bis Tadschikistan, von Libyen bis Südasien schwören bekannte ebenso wie obskure Terrorgruppen dem Kalifat nach seinem faktischen Untergang die Treue. Auf die Errichtung einer möglichst die ganze Menschheit, wenigstens aber die islamische Umma (die beide nichts damit zu tun haben mögen) umfassende Herrschaftsstruktur ist das nicht gerichtet, sondern auf Zerstörung. Der Richtung dienen die Zuströme von Geld, Waffen und Militanten aus den petrofeudalistischen Staaten am Golf. Ihr dient auch die klandestine türkische Unterstützung mancher Terrorgruppen in Syrien und Irak, die dann offen wird, wenn es sich um Aktionen gegen Kurden, Alewiten und rivalisierende Terrorgruppen handelt. Hier hat der IS ein Vielfronten-Chaos hinterlassen.

Andererseits berufen sich Vereinigungen, denen bei schärfstem Nachdenken islamische Traditionen nicht zugeschrieben werden können, auf die Verwandtschaft zu dem Phänomen aus der irakisch-syrischen Region. Auch Einzeltäter – Trittbrettfahrer – tun das mit Vorliebe. Und stets findet das ein Echo in der Weltpresse, Boulevard oder Leitmedium, vorzugsweise in zwei Formen. Entweder wird einfach zitiert, was dieser oder jener Amoktäter von sich gegeben hat, ein Bekenntnis zur Größe Allahs genügt völlig. Oder es findet sich, da Tathintergründe nicht bekannt sind, eine Phrase, dass ein IS-Hintergrund nicht ausgeschlossen werde, vermutet werden könne oder bisher nicht nachgewiesen sei.

Belege? Arabische oder nordafrikanische („Nafri“) Herkunft oder entsprechendes Aussehen, Lektüre, gesellschaftlicher Umgang – es muss sich doch was finden lassen. In den so genannten sozialen Medien ist das Alltag, und auch seriösere Publikationen auf Papier oder in Funk und Fernsehen greifen derartige „Hinweise“ auf. Das Netzwerk der Terror-ExpertInnen und die Terroristen haben es gemeinsam geschafft, dem Publikum, jedenfalls einem Teil davon, einen gesellschaftlichen Pawlowschen Reflex anzutrainieren. Und das ist möglicherweise die bedenklichste Hinterlassenschaft des Kalifats.

Diese Konditionierung vertieft die Ausländer-Feindschaft jener Menschen, die am rechten Rand der deutschen, französischen, belgischen, kurz: europäischen Gesellschaft angetroffen werden. Die politische Agitation der österreichischen Freiheitlichen, Le-Pen-Partei, der AfD und ihrer Pegida-Verbündeten wirkt auf die etablierten Parteien zurück, deren SprecherInnen aus berechtigter Furcht vor einem Rechtsruck in Umfragen und bei bevorstehenden Wahlen rhetorisch in die Nachbarschaft einschlägiger DemagogInnen ziehen, die xenophoben Vorurteile gegen Zuwanderer, Flüchtlinge, „Gast“arbeiterInnen anscheinend bestätigend. Doch die Vorurteile sind meist (noch?) die einer Minderheit. Einer Minderheit, die gleichwohl Wahlen entscheidend beeinflussen kann („Zünglein an der Waage“), der nach dem Mund zu reden keineswegs das Privileg der CSU ist.

Der Einbruch der als Populismus verharmlosten, mit Gewaltbereitschaft der vermeintlichen Patrioten gepaarten Intoleranz in die Gesellschaften Mitteleuropas und Nordamerikas ist gewiss nicht eins der politischen Ziele des IS gewesen. Aber er ist einer der nachhaltig verheerendsten Effekte.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt
Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.