Das Verhältnis der Afghanen zu ihrem Präsidenten

Karzai: Ein Präsident auf Abwegen

von Ehsan Shorish

Es gibt einige Begriffe, welche die meisten Menschen stets mit Afghanistan verbinden. Zu diesen Begriffen zählt das Wort Taliban genauso wie die Al Qaida, der 11. September, Osama Bin Laden sowie Mullah Omar. Drogen und Korruption gehören ebenfalls zu diesen Begriffen. Aber auch der Stolz der Afghanen spielt stets eine hervorgehobene Rolle. Künftig wird der Name Karzai ebenfalls einen unverzichtbaren Platz im kollektiven Gedächtnis der Menschen einnehmen.  

In den vergangenen 30 Jahren ist es nämlich keinem afghanischen Präsidenten auch nur ansatzweise gelungen, dem Stolz und den Bedürfnissen des afghanischen Volkes gerecht zu werden. Der Grund dafür ist allen AfghanistankennerInnen bekannt. Kein Präsident wurde je vom Volk gewählt oder von ihm gewollt, sondern stets von jenen als Statthalter eingesetzt, die in irgendeiner Art und Weise ein Interesse an Afghanistan hatten. Und diesen Herrschaften waren der Stolz und die Bedürfnisse der Afghanen stets egal. Daher waren die Afghanen immer wieder gezwungen, zumeist mit Waffengewalt, selber für ihre Ziele zu kämpfen. Die Statthalter zogen bislang immer den Kürzeren. Auch wenn Präsident Karzai mehr oder weniger demokratisch gewählt wurde, ändert das nichts an der Tatsache, dass er von den meisten Afghaninnen und Afghanen als ein Statthalter der USA wahrgenommen wird.

Dass gerade dieser Präsident nun seinen Herren die Stirn bietet und sich weigert, ein Sicherheitsabkommen mit ihnen zu unterzeichnen, erinnert ein wenig an einen schlechten Thriller. So abwegig wie sich Präsident Karzai in den vergangenen 10 Jahren seinem Volk gegenüber verhielt, so abwegig verhält er sich nun gegenüber dem Westen. Für manche darf dies als eine Art Genugtuung gegenüber dem Westen herhalten, aber in Wirklichkeit zeigt sein Verhalten nur die Abgründe eines Mannes, den der Westen Afghanistan als seinem Präsidenten aufgezwungen hat.

Karzai wird zwar als einziger Präsident der letzten 30 Jahre in die Geschichte Afghanistans eingehen, der kein Blut an den Händen hat, aber gleichzeitig wird ihm auch ein Platz als einer der unfähigsten Präsidenten in den Geschichtsbüchern sicher sein.

Die meisten Ethnien Afghanistans fühlen sich in keinster Weise durch Präsident Karzai auch nur annähernd repräsentiert. Das größte Leid musste jedoch jene Ethnie hinnehmen, zu deren Beruhigung Präsident Karzai eingesetzt worden war, nämlich die Paschtunen. Präsident Karzai, ebenfalls ein Paschtune aus der südlichen Provinz Kandahar, war ein Wunschkandidat der Amerikaner im Jahre 2001. Die Falken in Washington um Dick Cheney und Co. betrachteten ihn aufgrund seiner Tätigkeit für den Energiekonzern Unocal als jemanden aus den eigenen Reihen. Zudem sollte er die Paschtunen vereinen und auf Linie bringen. Dass dieses Vorhaben kläglich gescheitert ist, wird heute nicht einmal mehr von Washington bestritten.

Die Afghanen haben realisiert, dass sich nach 2014 die Machtverhältnisse zugunsten der Aufständischen verschieben werden. In Afghanistan ist nach dem Rausch der vergangenen elf Jahre wieder Ernüchterung eingekehrt.

Viele Afghaninnen und Afghanen glauben nicht, dass die afghanische Armee (ANA – Afghan National Army) und die Polizei (ANP – Afghan National Police) in der Lage sein werden, die Sicherheit der BürgerInnen nach 2014 zu gewährleisten, wenn sie nicht einmal heute mit massiver internationaler Unterstützung dazu in der Lage sind.

Vor allem die Paschtunen fühlen sich schon seit Beginn des Krieges im Jahre 2001 als benachteiligte Bevölkerungsgruppe, obwohl sie in dem Vielvölkerstaat die Mehrheit bilden.

Als sich die USA im Jahre 2002 an die Bildung einer neuen afghanischen Regierung machten, verließen sie sich ausschließlich auf die Expertise der Funktionäre der ehemaligen Nordallianz. Innerhalb dieser Allianz befanden sich aber auch Personen mit einer stark nationalistischen und antipaschtunischen Haltung. Sie diskreditierten die Paschtunen, wo sie nur konnten. Ihrer Meinung nach war jeder Paschtune ein Talib oder zumindest ein Sympathisant der Taliban. In Kabul herrschte in den Jahren 2002 bis 2005 eine spürbare antipaschtunische Atmosphäre. Paschtunen war es teilweise nicht mehr möglich, sich in Kabul in ihrer Muttersprache zu unterhalten, ohne dass sie dafür angefeindet wurden, eben geschürt von den Anhängern dieser Allianz. Wer jedoch die Jahrhunderte alte Geschichte Afghanistans kennt, der muss auch wissen, dass es bisher keinem afghanischen Führer gelungen ist, sich ohne die Unterstützung der Paschtunen langfristig in Afghanistan an der Macht zu halten. Unabhängig davon, dass sie als Ethnie diskreditiert wurden, hat man sie auch politisch ausgegrenzt. Westliche Keyplayer glaubten, dass die Paschtunen sich mit einem fragwürdigen paschtunischen Präsidenten namens Karzai zufriedengeben könnten, während alle Schlüsselpositionen mit Vertretern der Nordallianz besetzt wurden. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass die Paschtunen sich im Jahre 2004 langsam von Karzai abwandten und Karzai jegliche Legitimität bei ihnen verlor. Dies führte wiederum zu einer immensen und bis heute andauernden Schwächung Karzais, aber auch des gesamten Staatsaufbaus!

Dabei war zunächst das Verhältnis der Paschtunen zur afghanischen Regierung um Präsident Karzai recht gut. Tausende von Stammesangehörigen aus den verschiedensten Stämmen machten sich bereits in den Jahren 2002 und 2003 auf den Weg nach Kabul, um Präsident Karzai zu seiner Wahl zu gratulieren und ihm auch ihre Zusammenarbeit und Unterstützung anzubieten. Jedoch haben weder Karzai noch die USA dieses Angebot jemals ernst genommen, geschweige denn das dahinterstehende Potential richtig erkannt. Und der Umgang der US-Armee mit den Paschtunen sowie die nächtlichen Razzien und  Angriffe der US-Luftwaffe auf ZivilistInnen in den paschtunischen Gebieten trugen zusätzlich dazu bei, dass sich das Verhältnis der meisten Paschtunen zum Präsidenten und auch zum Westen abkühlte.

Die Paschtunen sind aber bei weitem nicht die einzigen Leidtragenden dieses Konflikts. Auch die Minderheiten in Afghanistan leiden unter der Regierung Karzai. Sowohl die Tadschiken als auch die Hazara und Usbeken werden landesweit gegen ihren Willen von Kriegsverbrechern und Warlords repräsentiert. Zia Massud, Mohaqeq oder General Dostum sind nicht von ihren Volksangehörigen dazu legitimiert worden, sie im In- und Ausland zu vertreten. Dennoch werden sie von der Regierung Karzai und auch teilweise vom Westen als die legitimen Vertreter der jeweiligen Ethnien betrachtet und wie Staatsgäste empfangen. Einigen dieser Herrschaften werden nicht nur tausendfacher Mord und Vergewaltigungen an Frauen vorgeworfen, sie arbeiten auch sehr zielstrebig an einer Teilung Afghanistans, um so ihre Macht weiter ausbauen zu können. Es sind diese selbsternannten Anführer, die weder an Frieden noch Stabilität in Afghanistan interessiert sind, da sie darin eine Gefahr für sich und ihre Machenschaften sehen.

Afghanistan besteht aber nicht nur aus Kriegsverbrechern und Warlords, die das Land führen können. Es gibt Tausende von AfghanInnen in allen Teilen des Landes, die ein sehr hohes Ansehen genießen, über ein sehr hohes Bildungsniveau verfügen und – was für alle Afghanen am wichtigsten ist – kein Blut an den Händen haben! Diesen Menschen muss die Möglichkeit gegeben werden, für ihr Land zu arbeiten. Dies wird aber nicht möglich sein, solange korrupte Elemente innerhalb der afghanischen Regierung den Ton angeben.

Um die Situation in Afghanistan grundlegend zu verändern, müssen große Teile der afghanischen Institutionen umstrukturiert werden. Sowohl  die bewaffnete Opposition als auch die Minderheiten des Landes müssen an der Bildung einer neuen Regierung beteiligt werden. Die neuerlangten Rechte der afghanischen Frauen müssen auf Dauer gesichert werden. Den Stammesführern der paschtunischen Mehrheit muss eine besondere und gewichtige Rolle zugesprochen werden, so dass sie das ländliche Afghanistan an die Zentralregierung binden können. Nur so wird es möglich sein, das verlorengegangene Vertrauen der Afghanen zurückzuerlangen.

Wer auch immer die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 für sich entscheidet, ist gut beraten, die Bedürfnisse aller Afghanen zur höchsten Priorität zu erklären, denn das letzte was das Volk jetzt braucht, ist ein weiterer nicht legitimierter Präsident auf Abwegen.

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt

Themen

Ehsan Shorish wurde 1976 in Kabul geboren und hat die sowjetische Invasion in den 1980er Jahren sehr bewusst miterlebt. 1987 ist er in die BRD eingereist. Er hat seit 2002 Afghanistan mehrmals bereist und berät seit zehn Jahren Firmen und staatliche Institutionen in der EU über Afghanistan. Von 2009 an hat er die Verhandlungen seines Vaters, Naqibullah Shorish (Stammesführer der Kharuti) sowohl mit den Taliban als auch mit der Nato und der EU begleitet.