KDV in Europa - Eine Bestandsaufnahme

von Stephan BrüesMichael Gerhardt
Hintergrund
Hintergrund

Europa wächst zusammen, vor allem wirtschaftlich. Der Euro wird eingeführt. Und EUROPOL. Ein Europa des Kapitals und der Abschottung gegen außen? Was aber ist mit den Rechten der europäischen Bürger - z.B. auf Kriegsdienstverweigerung? Am 16./17. Oktober 1997 fand in Georgsmarienhütte bei Osnabrück eine Vorbereitungstagung zum "Europäischen Friedens- und Kriegsdienstverweigerungskongreß" Ende Mai in Osnabrück statt. Anknüpfend an die Referate dieser Tagung ziehen Michael Gerhardt und Stephan Brües durch die EU und zeigen auf, welche Bestimmungen es für KDVer gibt.

Zunächst seien einige Länder kurz erwähnt, die vor nicht allzu langer Zeit die Wehrpflicht abgeschafft haben oder dabei sind, diese abzuschaffen: Belgien, Niederlande und

Frankreich

Frankreich ist bis dato bekannt für ein sehr restriktives KDV-Recht. Es besteht seit 1983. Ein Antrag kann bisher nur innerhalb bestimmter Fristen (am 15. des Vormonates eines allgemeinen Einberufungstermins) gestellt werden. Ein Antrag während des Militärdienstes ist nicht zulässig. Der Zivildienst dauert doppelt so lange wie der Militärdienst (10 zu 20 Monaten).

Statt der Wehrpflicht gibt es demnächst einen eintägigen Staatsbürger- und Wehrkundetag, dessen Besuch verpflichtend ist. Abwesenheit wird mit langjährigem Entzug der Bürgerrechte bestraft.

Italien

In Italien besteht das Recht auf KDV nun seit genau 25 Jahren. Wie in Frankreich ist es auch hier nicht möglich, während des Militärdienstes zu verweigern. Der Zivildienst dauert 20 Monate (bei 12 Monaten Wehrdienst, der bis 1997 galt). 1989 hat aber das Verfassungsgericht entschieden, daß der Zivildienst nicht länger sein dürfe als der Wehrdienst. Dies wurde im August 1989 von dem für den Zivildienst zuständigen Organ in die Praxis umgesetzt: dem Verteidigungsministerium. Ein neuer Gesetzentwurf wurde Anfang 1997 vom Senat gebilligt und beinhaltet die Vereinfachung des KDV-Antrages (bloße Erklärung und die Zivilisierung der Zuständigkeit für den Zivildienst ins Amt des Premierministers). Allerdings gibt es auch in diesem Entwurf kein Recht auf Soldatenverweigerung.

Portugal

In Portugal, bis 1975 eine Militärdiktatur, gibt es das Recht auf KDV seit 1992. Der Wehrdienst dauert 4, der Zivildienst 7 Monate. Theoretisch kann jederzeit ein KDV-Antrag gestellt werden. Wird er jedoch später als 30 Tage vor dem allgemeinen Einberufungstermin gestellt, wird er erst nach dem Militärdienst bearbeitet.

Spanien

Der brisanteste Fall in Europa in Sachen KDV und Wehrpflicht ist sicherlich Spanien. Deshalb soll er am ausführlichsten behandelt werden. Im Jahre 1984 wurde das Recht auf KDV gesetzlich verankert. Doch schon sieben Jahre zuvor wurde die KDV- oder besser Anti-Wehrpflicht-Bewegung gegründet. Diese wachte darüber, daß alle restriktiven Bestimmungen aus dem Gesetz herausfielen. Das war ihnen aber nicht genug. Sie nutzten die Totalverweigerung als politisches Mittel, um die Wehrpflicht überhaupt auszuhebeln. Z.Zt. gibt es in Spanien 15.000 Totalverweigerer, 1.000 davon sitzen in Gefängnissen und 5.000 warten auf ihre Prozesse. Demnächst wird die Strafe für Totalverweigerung allerdings sehr hart sein: 12 Jahre Entzug der Bürgerrechte, wozu auch der Entzug jeglicher sozialer Unterstützung zählt: kurz "sozialer Tod".

Bis zum Jahre 2002 soll die Wehrpflicht abgeschafft sein. Vielleicht aber auch früher. Rafael Ajangiz sagte dazu auf der Tagung in Georgsmarienhütte: "Dieses Jahr werden zwischen 110.000 und 120.000 Wehrpflichtige einen KDV-Antrag stellen; wir haben nur eine Gesamtzahl von 170.000 Wehrpflichtigen. Das sind 65 - 70 %, letztes Jahr waren es 46 %. Das Ende (der Wehrpflicht) ist also nahe. Nicht weil es die Regierung so entschieden hätte, sondern weil der Damm (der Verweigererzahlen) bereits gebrochen ist". Wie konnte es zu einer solch breiten Aktionsfront gegen die Wehrpflicht in Spanien kommen?

Zunächst muß festgestellt werden, daß mit einer Verweigererquote von 80 - 90 % die baskische Provinz eine führende Rolle in der Bewegung spielt. Deren Antipathie zum spanischen Staat (die nichts mit einer ETA-Sympathie zu tun hat, im Gegenteil) dürfte hier stark hineinspielen. Auch die Erfahrungen der Elterngeneration mit der Militärdiktatur dürfte eine Rolle bei der Ablehnung der Wehrpflicht spielen. Ein Zwangssystem wird als undemokratisch empfunden und widerspricht dem starken Wunsch nach persönlicher und gesellschaftlicher Autonomie vieler Spanier. Und daran anschließend gibt es in Spanien eine lange Tradition des Anarchismus, an die viele totalverweigernde Jugendliche anknüpfen können. Eine große Rolle spielt auch, daß es innerhalb des Militärs eine hohe Zahl von Menschenrechtsverletzungen gegenüber Rekruten gab, welche die Gesellschaft erschütterten. Auch die vielen Totalverweigerer in den Knästen haben einen hohen Solidarisierungsgrad bewirkt.

Diese Komponenten sind die Basis für die organisatorische Stärke der spanischen Anti-Wehrpflicht-Bewegung (insurgencia).

Der Antimilitarismus vieler Spanier wird auch eine vermutlich bald kommende Berufsarmee vor große Schwierigkeiten stellen. Es finden sich nämlich schon jetzt kaum Männer, die freiwillig in die Armee kommen. Und hier ist ein Ansatzpunkt für pazifistische Bewegungen in Spanien, auf eine militär- und waffenlose Gesellschaft hinzuarbeiten. Wenn sich die Bewegung mal nur nicht auf ihren Erfolgen ausruht...

Griechenland

Bis zum 5. Juni 1997 gab es überhaupt kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung, obwohl das Europäische Parlament bereits vor knapp vier Jahren KDV als Menschenrecht anerkannt hatte. Nun gibt es ein KDV-Gesetz, das Nikos Pulos vom Verband der griechischen KDVer schlichtweg als "skandalös" bezeichnet.

Die KDVer werden aufs Land geschickt, dürfen das Land aber nicht verlassen. Im Klartext: Zivistellen befinden sich ausschließlich in der tiefsten Provinz. Der Zivildienst dauert 18 Monate länger als der Wehrdienst. Die Anerkennung als KDVer kann jederzeit widerrufen werden, wobei eine Verweigerung während des Wehrdienstes selbstverständlich nicht zulässig ist. Aber das neue KDV-Recht hält noch weitere Überraschungen parat: Selbstverständlich kann niemand den Kriegsdienst verweigern, der einen Jagd- oder Waffenschein hat (in Griechenland ist der Jagdschein sehr weit verbreitet!). Auch wird dem die Anerkennung sofort wieder entzogen, der beispielsweise an einer gewaltfreien, aber nicht genehmigten Demonstration teilgenommen hat. Nur nebenbei sei noch erwähnt, daß der Zivildienst vom Verteidigungsministerium organisiert wird. Selbstverständlich besteht auch die KDV-Prüfungskommission aus hochrangigen Militärvertretern. Nikos Pulos prophezeit, daß dieses neue restriktive KDV-Gesetz massenhaft Totalverweigerer produzieren wird. Somit bleibt praktisch in Griechenland vieles beim alten: KDVer werden bestraft und verfolgt. Noch heute verstecken sich 10.000 Menschen vor der Wehrpflicht. Und dies alles findet in einem Land statt, das bereits seit 1981 Mitglied der EU ist!

Österreich

Auch bei unseren südlichen Nachbarn gibt es bezüglich des Rechts auf KDV einiges zu meckern:

1991 wurde die mündliche "Gewissensprüfung" abgeschafft, jedoch gekoppelt mit einigen Verschlechterungen. Betrug 1991 die Dauer des Zivildienstes noch 8 Monate, so sind es heute bereits 12. Das größte Problem für KDVer sind jedoch die neuen schikanösen Fristen für die Antragstellung. Konnte der KDVer 1991 noch bis zu 14 Tage nach seiner Einberufung einen rechtskräftigen Antrag stellen, so muß er es nun 2 Tage vor der Einberufung getan haben. Das bedeutet, daß viele potentielle KDVer erst bei ihrer Einberufung mitbekommen, daß ihre Frist für die Verweigerung bereits abgelaufen ist. Diese restriktiven Fristen haben zur Folge, daß bereits gegen zahlreiche KDVer, die diese Frist versäumt haben, Verfahren laufen. Aus Angst vor Festnahme und Gefängnis sind einige schon untergetaucht.

Finnland

Ein etwas postitiveres Bild gibt Finnland ab. Seit 1987 ist das KDV-Verfahren deutlich vereinfacht worden. Der Antragsteller muß nunmehr nur noch ein Formblatt ausfüllen. Es kann zu jedem Zeitpunkt verweigert werden, auch wenn der Wehrdienst bereits zu einem Teil absolviert wurde. Der Zivildienst wird vom Arbeitsministerium organisiert. Der Zivildienst ist mit 13 Monaten immer noch um rund 3 Monate länger als der Wehrdienst. Nach Aussage von Jukka Hämläläinen, ehemaliger Zivi bei der Finnisch-Lutheranischen Kirche, ist die Anzahl der Totalverweigerer seit 1987 auf nahezu null gesunken. Alles in relativer Ordnung in Friedenszeiten. In Finnland wird die Kriegsdienstverweigerung jedoch ausschließlich als Wehrdienstverweigerung in Friedenszeiten verstanden. Wie die finnische Gesellschaft mit KDVern umgeht, die auch zu Kriegszeiten jeden Dienst an der Waffe verweigern, ist bis heute nicht klar und wird kaum thematisiert.

Fazit

Im Hinblick auf das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung, ist die Europäische Union nicht gerade ein Musterschüler. Auf diese Mißstände hat das Europaparlament schon häufig in Resolutionen hingewiesen, im übrigen auch mit den Stimmen der konservativen Parteien. Als Christof Tannert 1994 als sozialistischer Abgeordneter im Europaparlament begann, konnte er es kaum glauben: Im EU-Mitgliedsland Griechenland mußte jeder KDVer damit rechnen, für vier Jahre ins Gefängnis zu wandern. Für ihn sollte die Anerkennung der Gewissensfreiheit auf KDV Aufnahmekriterium für zukünftige EU-Beitrittskandidaten sein. Niedersachsens Justizministerin Heidrun Alm-Merk brachte es auf der Fachtagung in Georgsmarienhütte auf den Punkt: es müsse nicht nur eine Union der Wirtschaft, sondern auch eine Union der Ethik geben. Ihr Rezept: Parlamente und Regierungen müssen permanent mit dem Thema Kriegsdienstverweigerung genervt werden, bis die KDV endgültig in allen Staaten der EU (und darüber hinaus) als nicht sanktioniertes Menschenrecht anerkannt ist. Der "Europäische Friedens- und Kriegsdienstverweigerungskongreß" in Osnabrück wird Ende Mai 1998 versuchen, den entsprechenden Druck auf Regierungen und Militärs auszuüben.

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Hintergrund
Stephan Brües ist freier Journalist/Texter und Co-Vorsitzender des Bunds für Soziale Verteidigung.
Michael Gerhardt ist Redaktionsmitglied bei "Zivilcourage" Internet: http://www.dfg-vk.de