Türkei

Kein Licht am Ende des Tunnels

von Christine Schweitzer
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Seit dem Putschversuch im Juli 2016 berichten die großen Medien ausführlich zur Situation in der Türkei. Zur Erinnerung: Es hat nach dem Putsch mindestens 35.000 Festnahmen, u.a. auch Parlamentsabgeordnete, JournalistInnen und BürgermeisterInnen, gegeben, über 80.000 Staatsbedienstete wurden entlassen, darunter 21.000 LehrerInnen, 15.000 Angestellte des Bildungsministeriums, 3.500 RichterInnen und StaatsanwältInnen und viele Tausend Polizisten (Anfang Januar nochmal 6.000); über 1000 private Schulen und 15 Universitäten wurden geschlossen, 50.000 Pässe für ungültig erklärt und über 130 Medien geschlossen sowie 370 Vereine und Verbände verboten.

Wer meint, dass dies nur eine Reaktion auf den Putschversuch war und sich die Situation inzwischen doch normalisiere, irrt sich: Längst nicht nur die Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung, der – ob zu Recht oder nicht – die Verantwortung für den Putsch vorgeworfen wird, sondern auch Mitgliedschaft in der HDP, einer pro-kurdischen demokratischen Partei oder Engagement für Menschenrechte können dazu führen, den Job zu verlieren oder gar festgenommen zu werden. Von den 370 verbotenen NGOs wurde bei 153 zur Begründung angeführt, dass sie der Gülen-Bewegung, bei 190, dass sie der PKK nahe stünden. Immer mehr MenschenrechtlerInnen und ihre UnterstützerInnen – einschließlich der AnwältInnen, die sie verteidigen sollen – geraten in den Fokus der Behörden. Manche werden nach ein paar Tagen Polizeiarrest wieder freigelassen, viele andere bleiben im Gefängnis. Und nur selten enden die Prozesse mit einem Freispruch. Eine Ausnahme, die auch in Deutschland verfolgt wurde, war der ehemalige Spieler des Hamburger Kult-Vereins St, Pauli, Deniz Naki, der Anfang November 2016 freigesprochen wurde. Vielleicht wegen der Welle der Solidarität mit ihm, die auch die türkischen Behörden beeindruckt haben könnte, vielleicht auch, weil es gegen aller Erwartung in der türkischen Justiz doch noch BeamtInnen mit Rückgrat gibt. Auch bei mehreren anstehenden Prozessen gegen prominente MenschenrechtlerInnen wird es internationale Proteste und Prozessbeobachtung geben. Aber das lässt sich schlicht nicht für alle Betroffene organisieren – deshalb bleibt nur die Hoffnung, dass Erfolge bei ausgewählten Prozessen indirekt auch die anderen beeinflussen.

Krieg in Kurdistan
Was den Konflikt zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen PKK angeht, so hat sich  leider wenig verändert. Als einige Friedensorganisationen aus dem Umfeld der War Resisters‘ International vor einem Jahr den Aufruf „Stoppt die Spirale der Gewalt in der Türkei“ starteten (wir berichteten im FriedensForum), war das Hauptziel, bekannt zu machen, dass es in der Südosttürkei wieder Krieg gab. Dort war nach der Aufkündigung eines kurz zuvor geschlossenen Friedensabkommens zwischen PKK und Regierung durch die Regierung seit Herbst 2015 wieder gekämpft worden. Viele Menschen, darunter auch viele ZivilistInnen, verloren im Winter 2015-2016 ihr Leben, ohne dass dies hier bei uns jemand zur Kenntnis zu nehmen schien. Alles blickte nur auf die Türkei als Partnerin im gerade ausgehandelten Flüchtlingsdeal. Auch wenn die Kämpfe im Südosten der Türkei abgenommen haben – beendet sind sie keineswegs. Wie wir uns bei unseren Besuchen in der Region selbst überzeugen konnten, gibt es nicht nur neue Gewaltschauplätze, sondern auch die Städte, wo die Waffen inzwischen schweigen, erinnern an militärische Besatzungszonen. Viele von ihnen wurden unter Zwangsverwaltung gestellt, bestimmte Stadtteile sind weiterhin unzugänglich, werden von Bulldozern eingeebnet und die BewohnerInnen enteignet.

Trotzdem scheuen sich unsere Regierungen weiterhin, von einem bewaffneten Konflikt zu sprechen, sondern übernehmen die Diktion der türkischen Regierung, die grundsätzlich nur von der Bekämpfung des Terrorismus spricht. Zwar ist es wahr, dass eine kurdische Splittergruppe der PKK zahlreiche Terroranschläge verübt hat, denen im letzten Jahr mehrere Hundert Soldaten und Polizisten zum Opfer gefallen sind. Aber nicht nur sie, sondern die gesamte kurdische Bevölkerung muss derzeit für die Taten dieser kleinen Gruppe bezahlen. Eine Nebenwirkung der Taten der TAK („Kurdistans Freiheits-Falken“) ist leider auch, dass ihre Anschläge erfolgreich alle internationalen Bemühungen um eine Legalisierung der PKK (d.h. zu erreichen, dass sie von der internationalen Liste der Terrororganisationen heruntergenommen wird) konterkarieren. Und auch eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses mit der PKK, auf die viele KurdInnen hoffen, wird so für die türkische Öffentlichkeit, die die „Märtyrer im Kampf gegen den Terror“ ehrt, kaum vermittelbar.

Friedensbewegung unter Druck
Und wie sieht es mit einer Friedensbewegung aus? Vor einiger Zeit hatten sich in vielen Städten Gruppen unter dem Namen „Peace Bloc“ zusammengetan, um gegen die neue Gewalt im Südosten zu protestieren. Doch nach dem Putsch sind viele von ihnen nicht mehr aktiv. Kriegsdienstverweigerer (Wehrpflicht in der Türkei gilt nur für Männer) werden im Unterschied zu früher nicht mehr direkt eingesperrt, aber sie erleiden das, was GesprächspartnerInnen in der Türkei als einen „zivilen Tod“ bezeichneten: Ohne Nachweis, den Wehrdienst abgeleistet zu haben, bekommt man u.a. keine Arbeit und kann kein Studium abschließen.

Sehr aktiv sind nach wie vor verschiedene Menschenrechtsorganisationen – soweit sie noch nicht verboten sind. Einige wurden wegen ihrer Berichterstattung über die Kämpfe in der Südosttürkei schon verboten, gegen andere laufen Ermittlungen. Sie haben die Gewalt des letzten Jahres ausführlich dokumentiert (und einige von ihnen mussten dies schon mit einem Verbot bezahlen, gegen andere laufen Untersuchungen). Ebenso beobachten sie die jetzt anlaufende Welle von Gerichtsprozessen und haben zahlreiche Klagen beim Europäischen Gerichtshof eingereicht.

Wie könnte es weitergehen?
Mitte Januar 2017 hat das türkische Parlament eine von Präsident Erdogan schon seit Jahren angestrebte Verfassungsreform beschlossen. Sie bekam trotz des Widerstand der HDP und der CHP, der Mitte-Links orientierten Oppositionspartei, eine Mehrheit, auch weil im Rahmen des Notstands elf Abgeordnete der oppositionellen, kurdisch geprägten HDP aus dem Parlament entfernt worden waren. (Sie sitzen seit November wegen angeblicher Unterstützung der PKK in Untersuchungshaft, unter ihnen die ParteichefInnen Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag.) Ziel der Reform ist, ein Präsidialsystem nach amerikanischem Vorbild einzuführen und dem Präsidenten mehr Einfluss auf die Justiz zu geben; ihre Gegner sprechen von einem „Sultanat“ Erdogans. Bevor sie in Kraft tritt, soll sie noch durch ein Referendum im April abgesichert werden. Jetzt bereiten sich BefürworterInnen wie GegnerInnen auf diese Volksabstimmung vor, deren Ergebnis nicht so eindeutig vorhersehbar ist, wie man meinen mag. Die Frage: Was geschieht, falls eine Mehrheit die Reform ablehnt? Würden Erdogan und die AKP ein solches Abstimmungsergebnis akzeptieren? Und was wird geschehen, falls sie es nicht tun – wird dann eine neue Welle der Gewalt die ganze Türkei ergreifen? Oder haben die Sicherheitskräfte die Situation so sehr im Griff, dass sie alle Demonstrationen – die in der Türkei noch schneller als in Westeuropa in Gewalt ausarten dürften – unterdrücken können? Oder wird es eine Bewegung zivilen Widerstands geben? Auch dafür gibt es bislang wenig Anzeichen, obwohl solch ziviler Widerstand vielleicht die einzige Möglichkeit wäre, zu verhindern, dass das Land in Gewalt(herrschaft) versinkt.

Ausgabe

Rubrik

Krisen und Kriege
Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.