Corona und Militarismus

Keine Kugel hält einen Virus auf

von Christine Schweitzer
Im Blickpunkt
Im Blickpunkt
( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Die Corona-Pandemie ist nicht allen ungelegen gekommen. In ihrem Schatten haben populistische und diktatorische Regime, Rechtsextremist*innen und das Militär vieler Länder davon profitiert, dass die öffentliche Aufmerksamkeit abgelenkt ist.

Anfang Mai fand der Internationale Rat der War Resisters‘ International statt, dem 1921 gegründeten Netzwerk pazifistischer und antimilitaristischer Gruppen aus aller Welt. (1) Er war eine Gelegenheit, die weltweiten Erfahrungen zum Thema „Militarisierung und Corona“ zusammenzutragen und zu vergleichen.

Friedensdividenden: Weitgehend Fehlanzeige
Der verheerende Tsunami zu Weihnachten 2004 machte in Aceh einen Friedensprozess möglich. Manche Beobachter*innen hofften, dass die Coronakrise ähnliche positive Nebenwirkungen haben würde, wenn frühere Feinde zusammenrücken würden, um gemeinsam die Pandemie zu bekämpfen. Der UN-Generalsekretär António Guterres rief am 23. März zu einem globalen Waffenstillstand auf, damit sich alle auf die Bekämpfung des Virus und die Erleichterung der humanitären Hilfe für die betroffene Bevölkerung konzentrieren könnten. Doch nur zwölf bewaffnete Parteien in zehn Ländern weltweit erklärten solche vorübergehenden Waffenstillstände und noch weniger halten sie ein: Zu Letzteren gehören derzeit (Mitte Mai) die ELN in Kolumbien, Regierung und verschiedene Rebellengruppen im Sudan, die kommunistischen Aufständischen und die philippinische Regierung, Israel und Hamas im Gazastreifen und eine große Rebellengruppe in Thailand. In Myanmar ist der Bürgerkrieg abgeflaut, die Regierung hat einen viermonatigen Waffenstillstand verkündet und arbeitet mit den Rebellen bei der Bekämpfung von Covid-19 zusammen – leider mit einer Ausnahme: In Rakhine, dem Heim der Rohingyas, geht der bewaffnete Konflikt weiter.

Repression, Gewalt und Hunger
In etlichen Ländern haben Militär und militarisierte Polizei den Lockdown zum Vorwand genommen, ihre Machtbefugnisse nicht nur auf die Pandemie beschränkt vorübergehend wie in Deutschland, sondern dauerhaft auszubauen (Ungarn) und mit Gewalt gegen Oppositionelle oder bestimmte ethnische Gruppen vorzugehen. In Indonesien setzt die Regierung militärische Strategien ein, die für die Aufstandsbekämpfung entwickelt wurden – vom Herunterspielen der Gefahr über Desinformation bis hin zur Verfolgung von Bürger*innen, die sich kritisch gegenüber der Regierung äußern. In Nigeria sind nach Angaben der National Human Rights Commission seit dem Lockdown vom 30. März bis zum 16. April 18 Menschen von Polizeikräften umgebracht worden – Corona waren im gleichen Zeitraum nur 12 Menschen zum Opfer gefallen. In Kamerun, wo Anfang März im Süden des Landes heftige Kämpfe stattfanden, hat nur eine der zwölf Rebellengruppen dem von der UN vorgeschlagenen Waffenstillstand am 25. März zugestimmt und die Regierung blockiert humanitäre Hilfe in die betroffenen Gebiete. In Belarus (wie in Brasilien u.a.) leugnet der Präsident, dass es eine Seuche gäbe; Bürgerinitiativen, die Schutzkleidung etc. für Krankenhäuser sammelten, wurden ebenso bedroht wie Lehrer*innen, die dulden, dass ihre Schüler*innen zuhause bleiben. In verschiedenen Ländern Lateinamerikas haben die Zahl und der Grad an Aktivität rechter Milizen stark zugenommen.

Der Corona-Shutdown hat in sehr vielen Ländern des globalen Südens zu Not und Hunger geführt. Das Welternährungsprogramm der UNO warnte schon im April vor einer „Hungerkatastrophe biblischen Ausmaßes“. Es wird gefürchtet, dass sich die Zahl der Hungertoten – schon jetzt jedes Jahr neun Millionen Menschen – dieses Jahr verdoppeln könnte.

Länder der Europäischen Union – auch Deutschland – haben wie die USA die Abschiebung von unerwünschten Geflüchteten trotz der Krise fortgesetzt, ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Abgeschobenen und der Bürger*innen der Länder, die sie aufnehmen mussten. In Deutschland wurden dafür teilweise extra Flugzeuge gechartert. Von den USA und Mexiko wurden zwischen März und Mitte April nach den vorliegenden Zahlen mindestens 6.500 Guatemaltek*innen, 5.000 Honduraner*innen und 1.600 Salvadorianer*innen deportiert.

Derzeit werden in Deutschland fast alle Einschränkungen der Grundrechte mit der außergewöhnlichen Situation und der Unsicherheit der Regierenden und Verwaltungen gerechtfertigt. Dass in manchen Situationen berechtigte Vorsicht zu Willkür und Repression wurde, wird dabei immer deutlicher sichtbar und auch ausgesprochen. Das Komitee für Grundrechte schrieb dazu: „Außerparlamentarische Proteste, die ein Korrektiv sein könnten, sind nahezu verunmöglicht. Da, wo kleine Proteste unter Beachtung der vorgeschriebenen hygienischen Anordnungen stattfanden, wurden diese aufgelöst und einzelne Teilnehmende sanktioniert. Dadurch wird mitnichten die Bevölkerung geschützt, sondern allein die untertänige Befolgung der Anordnungen durchgesetzt.“

Last not least: Die jetzt angewandten oder noch geplanten, teilweise derzeit noch als „freiwillig“ deklarierten Überwachungsmaßnahmen könnten schnell zu Standardoperationen werden. Es gibt niemand, weder in Deutschland noch in anderen Ländern, die oder der garantieren kann, dass die gesammelten Daten nicht auch noch für andere Zwecke als der Verfolgung von Ansteckungswegen verwendet bzw. die neuen technischen Möglichkeiten auch nach der Überwindung von Corona weiter genutzt werden. Orwells 1984 rückt damit wieder ein Stück näher.

Militär übernimmt wichtige gesellschaftliche Funktionen
Das Verhältnis von Militär und Polizei ist in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich geregelt. In manchen ist es fast normal, dass Militär zur Verstärkung von Polizei eingesetzt wird (u.a. auch Frankreich oder Israel), in anderen Ländern wie z.B. Deutschland gibt es hierfür enge Grenzen. Doch davon unabhängig: Praktisch überall wurde Militär zur Unterstützung der Maßnahmen der Krisenbekämpfung eingesetzt. Es stellte dabei nicht nur Transport und medizinische Ausrüstung, Sanitäter*innen oder, wie in New York, ein ganzes Hospitalschiff zur Verfügung. In Baden-Württemberg wollte die Regierung 400 Soldat*innen für die Bewachung einer Geflüchtetenunterkunft und 400 weitere für die Kontrolle der Ausgangssperre einsetzen – erst auf Protest hin zog sie den Vorschlag zurück. In Israel riss das Militär das gesamte Management der Krise an sich. In vielen Ländern unterstützt es die Polizei bei der Überwachung der Ausgangssperren und -restriktionen. Und es nutzt diese Unterstützungsaufgaben, um seine eigene Legitimität und Wichtigkeit hervorzuheben. Das geht bis dahin, dass damit auch für die Rekrutierung neuer Soldat*innen geworben wird, wie die britische Gruppe Forces Watch recherchierte. Der Kopf der Royal Marines, verschiedene Infanterie-Regimenter und der Verteidigungsminister hätten alle die Pandemie mit dem Aufruf verbunden, ins Militär zu kommen.

Der „Krieg gegen Corona“
Weltweit reden Politiker*innen (z.B. Macron und Johnson) und Medien vom „Krieg gegen Corona“ und streuen immer wieder militärische Metaphern in ihre Reden ein. „Feldzug“, Feind“, „an der Front stehen“, „Kriegswirtschaft“ – kaum ein Tag ohne solche Begriffe, egal wie oft darauf hingewiesen wird, dass ein Virus nicht erschossen werden kann. Dennoch gibt es Parallelen, die Angst machen können: Auch in einem modernen internationalen Krieg wird von der Bevölkerung erwartet, dass sie zuhause bleibt und sich nicht etwa auf die Flucht macht. “Stay put“ war schon die Maxime in den alten Atomkriegsszenarien der 1970er und 1980er Jahren, und Soldaten trainierten, sich notfalls mit ihren Panzern einen Weg durch flüchtende Massen zu bahnen. Insofern ist die Befürchtung, die einige Aktivist*innen beim Treffen der WRI äußerten, dass die Pandemie auch dazu genutzt werde, die Bereitschaft zu Gehorsam der Bevölkerung zu testen, nicht völlig von der Hand zu weisen.

Aufrüstung im Schatten der Krise
Die von AKK verkündete Anschaffung neuer Kampfjets (siehe die Beiträge von Johannes Oehler und Regina Hagen in diesem Heft.) und die im Mai begonnenen Expert*innenanhörungen zu bewaffnete Drohnen zeigen, wie die Politik versucht, im Schatten von Corona Fakten zu schaffen. Öffentliche Diskussionsveranstaltungen solle es unter anderem an Universitäten geben, "um dem Thema eine breite Resonanz zu verschaffen". Interessante Behauptung – zu einer Zeit, wo es keine öffentlichen Veranstaltungen, weder an Unis noch anderswo, gibt!

Die Krisen systemisch sehen
Die Pandemie, Hungersnöte, Kriege, Flucht, Klimawandel, Umweltzerstörung, die drohende Weltwirtschaftskrise – auch wenn wir allein aus psychischem Selbstschutz meist immer nur eine, bestenfalls zwei dieser Krisen bewusst wahrnehmen können –-sie hängen zusammen. Corona hat uns, wie vielfach anderenorts kommentiert wurde, nicht nur die Schwächen der rücksichtslosen Privatisierung in essentiellen Lebensbereichen wie der Gesundheitsversorgung und einer Globalisierung, bei der die Unterbrechung von Handelswegen lebensgefährdend werden (Schutzmasken aus China…) gezeigt. Wir sollten aus vergangenen Krisen lernen. Die Weltwirtschaftskrise 1929 brachte indirekt die Nazis an die Macht, stärkte den Militarismus und ist letztlich damit eine der Ursachen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust gewesen. Daraus sollten wir lernen. Auch jetzt versuchen Rechtsextreme von der Krise zu profitieren, indem sie Proteste kanalisieren. Deshalb braucht es jetzt eine starke Stimme derjenigen, die eine andere, friedliche, sozial gerechte und ökologisch verantwortungsvoll handelnde Gesellschaft wollen.

Anmerkung
1 Eine längere Version dieses Artikel mit zahlreichen Quellenbelegen findet sich hier: www.soziale-verteidigung.de

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.