Die Nukleare Kette

Kreislauf oder Sackgasse?

von Alex Rosen

Als Mitglieder der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) engagieren wir uns bekanntlich auch gegen Atomenergie. Oft werden wir dabei gefragt, was dieses Engagement mit unserem ursprünglichen Ziel, der Verhütung des Atomkriegs, zu tun habe. Tatsächlich gab es zwischen der Abrüstungs- und der Anti-AKW-Bewegung lange Zeit nur wenige Schnittstellen. Dabei sind die zivile Nutzung der Atomenergie und die Schrecken der Atombombe beide Teil einer globalen Atomindustrie. Die VertreterInnen der Branche sprechen euphemistisch von einem „Nuklearen Kreislauf“ und wollen damit suggerieren, dass man in der Lage sei, ohne Rohstoffverbrauch oder Abfallprodukte quasi grenzenlos Energie (und Bomben) produzieren zu können – die Verwirklichung des alten Menschheitstraums vom Perpetuum mobile. Die Realität straft dieses attraktive Werbeversprechen Lügen. Tatsächlich wäre die Metapher einer „Nuklearen Kette“ oder gar einer „Nuklearen Sackgasse“ wohl treffender.

Seinen Anfang nimmt diese „Nukleare Kette“ in Bergwerken und Tagebaugruben in vielen Ländern dieser Welt. Hier wird Uranerz (früher: „Pechblende“) unter meist menschenverachtenden Bedingungen aus der Erde geschlagen, geschürft, gesprengt oder mit chemischen Lösungen geätzt. Der Raubbau des Urans in den Urwäldern Australiens, Afrikas und Indiens oder den Bergketten Zentralasiens und Nordamerikas hinterlässt atomare Wüsten - Landschaften, die von radioaktiven Abraumhalden durchzogen werden, von denen in der Trockenzeit strahlender Staub ins Land weht und in der Regenzeit verseuchtes Wasser die Flüsse und Grundwasserleiter flutet. Oft in den Gebieten indigener Völker gelegen, stellen die Uranabbaugebiete den Ausgangspunkt einer ungesunden und die Umwelt schwer belastenden Industrie dar, die sich, ungeachtet der katastrophalen Folgen des Uranabbaus, in den Verbraucherländern mit ihrer vermeintlichen Umweltfreundlichkeit zu brüsten versucht.

Die erhöhten Krebsraten und Missbildungen in den Ortschaften rund um die Uranminen zeigen die wenig bekannte Schattenseite der Atomwirtschaft. Auch hier in Deutschland gab es bis in die 1990er Jahre Uranabbau. Die Bergwerke der deutsch-sowjetischen Wismut Gesellschaft im sächsischen Erzgebirge und im thüringischen Vogtland versorgten über Jahrzehnte das militärische und später das zivile sowjetische Atomprogramm. Ein großer Teil des radioaktiven Niederschlags, der durch die überirdischen sowjetischen Atomwaffentests in der nördlichen Hemisphäre verbreitet wurde, stammt ursprünglich von deutschem Uran. Bis heute sind die ehemaligen Bergbaugebiete der Wismut durch die immense ökologische Katastrophe belastet, die der Uranabbau hinterlassen hat. 

Von den verseuchten Abbaugebieten führt der Weg des Urans über holprige Landstraßen zu Uranmühlen, deren radioaktive Abfallprodukte meist völlig wahllos in umliegende Flüsse oder Stauseen geleitet werden. Auf Lastschiffen überquert dann das aufbereitete Uranpulver in Form des leicht transportablen „yellow cake“ die Ozeane - das Kilo für ca. 70 Euro auf den einschlägigen Uranbörsen der westlichen Welt zu haben. Der Transport von jährlich mehreren Zehntausend Tonnen Uran und Plutonium kreuz und quer über den Globus stellt eine nicht zu vernachlässigende Gefahr für Umwelt und Gesundheit dar und ist nicht zuletzt ein enormes Proliferationsrisiko. Denn schon mit einigen Kilogramm Plutonium ließe sich eine sogenannte „dreckige“ Atombombe bauen; wobei allein diese Bezeichnung bereits ein Euphemismus ist, denn wer kann sich schon eine „saubere“ Atombombe vorstellen?

Die Atomfabriken
Ziel der Transporte sind die Atomfabriken, die Brennstoffe für Atomkraftwerke oder Sprengkörper für Atombomben herstellen. Hierzu muss der natürliche Anteil von Uran-235 von 0,7% auf ca. 4-5% (für zivile Nutzung) oder 85-90% (für militärische Nutzung) angereichert werden. Dabei ist zu beachten, dass der technische Sprung von niedrig zu hoch angereichertem Uran für eine durchschnittliche Industrienation keine große Herausforderung mehr darstellt, und somit jedes zivile Atomprogramm prinzipiell als Sprungbrett für ein militärisches genutzt werden kann. Die gemeinsame Infrastruktur der militärischen und zivilen Atomindustrie ist, 70 Jahre nach Zündung der ersten Atombombe, effizient aufeinander abgestimmt. Hunderte von kleineren und größeren Unfällen, Lecks, Bränden und Explosionen in diesen Atomfabriken haben dennoch immer wieder zu großflächiger radioaktiver Verseuchung und Verstrahlung geführt. Orte wie Majak, Tomsk, Tokaimura, Hanford, La Hague und Sellafield führen gemeinsam mit Tschernobyl und Fukushima die Liste der schwersten Umweltkatastrophen der Menschheitsgeschichte an und stehen symbolisch für die menschliche Hybris in Bezug auf die gefährliche Atomtechnologie.

Am Ziel: AKW oder Bombe
Weiter wandert das Uran, je nach Anreicherungsgrad, in Atomkraftwerke oder Waffensilos, lagert in Abklingbecken, kreuzt in U-Booten über die Weltmeere oder wartet beispielsweise am Atomwaffenstandort Büchel darauf, in einer B61-Bombe über einer fremden Großstadt abgeworfen zu werden. Mehr als 2.000 Atomwaffen wurden in den vergangenen Jahrzehnten detoniert und haben die weltweite Hintergrundstrahlung messbar erhöht. Kein Ort auf der Welt blieb vom radioaktiven Fallout verschont. Mehr als 3 Millionen zusätzliche Krebsfälle weltweit gehen auf das Konto der Atomwaffentests. Erst als WissenschaftlerInnen erhöhte Werte von radioaktivem Strontium in den Milchzähnen von Vorschulkindern fanden, wurden die atmosphärischen Atomwaffentests langsam eingestellt. Heutzutage gilt zwar ein relativer Teststopp, doch die globale Bedrohung, die weiterhin von den mehr als 16.000 Atomsprengköpfen ausgeht, ist noch immer Teil unseres täglichen Lebens. Mehr als 2.000 dieser Atomsprengköpfe befinden sich derzeit im sogenannten „hair trigger alert“ und können auf Knopfdruck durch die Präsidenten der USA oder Russlands gezündet werden – ein nahezu unvorstellbares Szenario, 25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges, aber leider alles andere als science fiction.

Aber auch das Uran, das den vermeintlich friedlichen Weg der zivilen Atomenergieproduktion einschlägt, führt unausweichlich zu schweren ökologischen Schäden. Dann landet es nämlich in Form abgebrannter Brennstäbe in den Giftmülltonnen, die zu Zehntausenden in feuchten Bergwerksstollen, schlecht gesicherten Lagerhallen und unterirdischen Bunkern rund um die Welt zu finden sind, oder wird der Einfachheit halber gleich in Sickergruben oder direkt in den Ozean abgelassen. Der Atommüll ist das schmutzige Ende der nuklearen Sackgasse und das nukleare Erbe, das unsere kurzsichtige Gegenwart zukünftigen Generationen überlässt. Weltweit gibt es kein sicheres Zwischen- oder Langzeitlager für den radioaktiven Müll, geschweige denn eine Form von „Endlager“, die dem Zahn der Zeit für Zehntausende von Jahren standhalten könnte. Tektonische Veränderungen, politische Umbrüche, Naturkatastrophen, Kriege ... nicht absehbar, was die Menschheit allein in den kommenden Jahrzehnten erwartet; wer kann sich da schon anmaßen, über Jahrhunderte oder Jahrtausende hinweg zu planen?

Ergebnis: Verseuchung der Umwelt
Die gemeinsame Endstrecke aller Abzweigungen der Nuklearen Kette ist stets dieselbe: egal ob es sich um radioaktiven Staub von Abraumhalden handelt, um Lecks aus Atomfabriken, Transportunfälle, radioaktiven Niederschlag oder undichte Atommüllsilos – die Folge ist immer eine Verseuchung der Umwelt mit radioaktiven Stoffen. Diese können dann mit Lebensmitteln, Trinkwasser oder der Atemluft von Menschen aufgenommen und im Körper eingebaut werden, wo sie über viele Jahre das umliegende Gewebe schädigen. Die Folgen sind Mutationen der DNA, Zelltod und Krebserkrankungen. Leukämie-Cluster und ein Anstieg der Schilddrüsenkrebsrate sind zwei der offensichtlichsten Zeichen chronischer Strahlenexposition; Fehlgeburten, Missbildungen und genetische Erkrankungen fallen statistisch oft erst auf, wenn man gezielt nach ihnen sucht. Epidemiologische Studien sind jedoch selten, da die Regierungen meist kein großes Interesse haben, die Atomindustrie durch wissenschaftliche Studien zu beschädigen. Die KiKK Studie, die signifikant erhöhte Kinderkrebsinzidenzen rund um deutsche Atomkraftwerke aufzeigte, bildet hier eine löbliche Ausnahme.

Die Namen Tschernobyl und Fukushima sind zu Synonymen für die Schrecken der Atomtechnologie und die weiträumige radioaktive Verseuchung geworden. Für uns als Ärztinnen und Ärzte ist jedoch wichtig festzuhalten, dass jedes Glied der Nuklearen Kette große Gefahr für Umwelt und Gesundheit birgt. Mehr Informationen über die Zusammenhänge der einzelnen Teile der Nuklearen Kette findet man auf der Internetseite www.nuclear-risks.org/de.

Dort kann man sich auch die Online-Ausstellung „Hibakusha Weltweit“ anschauen. Sie zeigt die gesundheitlichen und ökologischen Folgen der Nuklearen Kette an Hand von 50 Fallbeispielen aus aller Welt. Die Ausstellung ist denen gewidmet, deren Leben durch die Atomindustrie beeinträchtigt wurden: den indigenen Völkern, deren Heimat durch Uranbergbau in atomare Wüsten verwandelt wurde, den „Downwinders“ von mehr als 2.000 Atomwaffentests, den Überlebenden der Atomwaffenangriffe von Hiroshima und Nagasaki sowie den Menschen, die durch radioaktiven Niederschlag von zivilen und militärischen Atomkatastrophen betroffen sind. Sie alle hätten ein besseres Leben, wenn man das Uran im Boden belassen hätte.

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