Wie die Wahrnehmung eines Grundrechts faktisch verhindert wird

Kriegsdienstverweigerung

von Tobias Pflüger
Hintergrund
Hintergrund

Auch wenn das Thema Kriegsdienstverweigerung seit der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 kaum noch präsent ist: Aktuell ist es auch heute noch, da das Kriegsdienstverweigerungsrecht nicht nur Wehrpflichtigen, sondern auch aktiven Soldat*innen zusteht. Wenn diese nach ihrer Ausbildung mit der grausamen Realität des Krieges konfrontiert sind, beginnt doch so manche*r zu zweifeln. Für diese Menschen ist es enorm wichtig, auch dann noch den Kriegsdienst verweigern zu können. In der Realität sieht es jedoch leider anders aus. In den vergangenen Jahren häuften sich die Berichte, dass die Bundeswehr von Kriegsdienstverweigernden Ausbildungskosten in ruinöser Höhe zurückfordert. Deshalb habe ich eine Kleine Anfrage (1) an die Bundesregierung gestellt, die das Ausmaß des Problems verdeutlicht.

Die Antwort ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. 2015 bis 2020 stellten 1.172 Personen einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung. Davon wurden nur 523, also weniger als die Hälfte, ohne Widerspruch anerkannt. Viele wurden wegen vermeintlich ungeeigneter Begründungen oder Zweifeln abgelehnt. Etwa ein Viertel dieser 523 Anerkannten sah sich dann mit hohen Geldrückforderungen der Bundeswehr für Ausbildungskosten konfrontiert. Dies betraf 2015 bis 2020 149 Ex-Soldat*innen. Sie bezahlen ihre Gewissensentscheidung buchstäblich teuer. 8 Mio. € forderte die Bundeswehr 2015 bis 2020 von Kriegsdienstverweigernden zurück. Daraus ergibt sich ein durchschnittlicher Rückforderungsbetrag von etwa 53.700 € pro Person. Ein ehemaliger Flugsicherungsoffizier musste 2020 sogar 130.000 € an die Bundeswehr zurückzahlen. (2) Für einen Großteil der oft jungen Soldat*innen dürften solche Beträge existenzgefährdend sein. Von den seit 2015 zurückgeforderten 8 Mio. € wurden bislang nur 1 Mio. € zurückgezahlt. Möglicherweise haben einige ehemalige Soldat*innen schlicht nicht das Geld, um sich ihre Kriegsdienstverweigerung zu „erkaufen“. Dadurch wird das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung de facto ausgehebelt.

Offiziell begründet wird dies damit, dass die Ausbildung auf Kosten der Bundeswehr auch auf dem zivilen Markt genutzt werden könne. Ein Gerichtsurteil von 2017 nennt den eigentlichen Grund für die Regelung: Die Soldat*innen sollten durch die Aussicht auf eine Rückforderung davon abgehalten werden, vorzeitig ihren Dienst aufzugeben, weil das die Personalplanung und Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr gefährden könne. Die Rückforderungen seien „lediglich ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen“. (3) Die insgesamt 8 Mio. € Ausbildungskosten (über fünf Jahre!) sind für das Militär bei einem jährlichen Budget von rund 50 Mrd. € auch nicht relevant. Es geht darum, Soldat*innen von einer Kriegsdienstverweigerung abzuhalten.

Seit 2015 sinkt die Zahl der Kriegsdienstverweigerungen dementsprechend konstant: Gab es 2015 noch 398 Anträge, waren es 2019 nur noch 126. Das ist weniger als ein Drittel. Soldat*innen, die nicht mehr bereit sind, für deutsche Interessen zu kämpfen und zu sterben, nutzen mittlerweile andere Wege, die sie nicht finanziell ruinieren.

So steigt die Zahl der Entlassungen wegen mangelnder Eignung massiv: 2015 waren es noch 37 Soldat*innen, 2019 bereits 169. Diese Vervielfachung bei gleichzeitigem Rückgang der Kriegsdienstverweigerungen lässt darauf schließen, dass Soldat*innen, die verweigern wollen oder wollten, offensichtlich den Weg wählen, sich als ungeeignet für den Militärdienst darzustellen. Man kann sich vorstellen, wie demütigend das für die Betroffenen ist. Sie haben auch niemanden beim Militär, dem sie sich anvertrauen können. Zudem dauert es in der Regel lange, bis es zu einer Entlassung wegen mangelnder Eignung kommt. Dennoch scheinen einige diesen Weg zu wählen – ein Armutszeugnis für das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung.

Auch die Zahl der Entlassungen wegen Dienstunfähigkeit stieg zwischen 2015 und 2019 leicht: von 357 auf 483. Auch hier ist also eine Tendenz zu erkennen, die vermuten lässt, dass sich Kriegsdienstverweigernde krankschreiben lassen, bis sie entlassen werden.

Es kann nicht sein, dass Kriegsdienstverweigernde vor der Wahl stehen, ihren Arbeitgeber zu betrügen oder sich mit existenzgefährdenden Beträgen freizukaufen. Kriegsdienstverweigerung ist eine Gewissensentscheidung und ein Menschenrecht. Wir sollten die Soldat*innen mit dem Kampf um dieses Recht nicht allein lassen!

Anmerkungen
1 Antwort auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Tobias Pflüger u.a. und der Fraktion DIE LINKE. Kriegsdienstverweigerung. Drucksache 19/20480. 30.6.2020.
2 Legal Tribune Online: BVerwG zu Kriegsdienstverweigerern: Ex-Soldaten müssen Ausbildungskosten teils zurückzahlen. 12.3.2020.
3 Urteil vom 12.04.2017 - BVerwG 2 C 16.16: Rückforderung der Ausbildungskosten eines ehemaligen Sanitätsoffiziers auf Zeit

 

 

 

 

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Hintergrund
Tobias Pflüger ist stellvertretender Vorsitzender der Partei Die Linke. 1996 war er einer der Initiatoren für die Gründung der Informationsstelle Militarisierung (IMI).