Wiederkehr der Zwangsdienste?

Kriegsdienstzwang

von Gernot Lennert
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Bis zum Ende des Ost-West-Konflikts wurden in fast ganz Kontinentaleuropa junge Männer ins Militär gezwungen. In den 1990ern begannen Staaten in Europa, den Kriegsdienstzwang abzuschaffen oder auszusetzen. Mit großer Verspätung wurde 2011 auch in Deutschland die sogenannte Wehrpflicht (1) ausgesetzt. Das bedeutet, dass in Deutschland Männer gemäß dem nach wie vor gültigen Wehrpflichtgesetz zum Kriegsdienst verpflichtet sind, dass aber zurzeit niemand zwangsweise gemustert oder einberufen wird. Der Bundestag kann mit einfacher Mehrheit den Kriegsdienstzwang reaktivieren. Im Spannungs- und Verteidigungsfall tritt die Zwangsrekrutierung automatisch wieder in Kraft.
Die Friedensbewegung trug bestenfalls indirekt zu diesem Wandel bei und beschäftigte sich mehrheitlich nicht mit dem Thema. Sozialdemokratische, kommunistische und kirchliche Teile der Friedensbewegung befürworteten lange die Zwangsrekrutierung. Nur in Spanien trug die starke Bewegung der Totalen Kriegsdienstverweigerung (insumisión) wesentlich dazu bei, den Zwangsmilitärdienst zu Fall zu bringen.
2013 begann die Trendwende. Ein Referendum in Österreich bestätigte die Dienstpflicht, in Norwegen dehnte man die Zwangsrekrutierung auf Frauen aus. Ab 2014 reaktivierten die Ukraine, Litauen und Georgien die Kriegsdienstpflicht, 2018 Schweden. In Frankreich startete 2019 der Service universel national. Jugendliche ab 16 Jahren leisten in mehreren Phasen einen mehrmonatigen militärisch geprägten Dienst. Die Zahl der Freiwilligen soll jährlich gesteigert werden bis zu einem Zwangsdienst für alle. Auch in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Kuwait und Marokko wurde der Kriegsdienstzwang neu eingeführt oder reaktiviert.

Debatte in Deutschland seit 2018
Schon lange fordern die AfD und der rechte Flügel der CDU die Reaktivierung der sogenannten Wehrpflicht, verbunden mit Ersatzdiensten bei Feuerwehr, Technischem Hilfswerk und dergleichen. 2018 startete eine Kampagne für Zwangsdienste, mit Kramp-Karrenbauer als lauteste und prominenteste Stimme. Die Vorschläge aus der CDU kombinieren Militärdienstzwang mit Dienstpflicht für Jugendliche beider Geschlechter. Jenseits von AfD und CDU plädierten z.B. Günter Wallraff und eine marxistische Autorin der Wochenzeitung Jungle World (2) für den Kriegsdienstzwang. Abgesehen von der AfD werden kaum militärische Argumente angeführt, sondern vermeintliche Segnungen einer Dienstpflicht. Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung sprach von einem „Anti-Egoismus-Jahr.“ (3) Die Wehrbeauftragte Högl (SPD) forderte 2020 Zwangsrekrutierung zur Bundeswehr zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. (4) Kriegsdienst, Militär und Heldentod fürs Vaterland sind gegenwärtig nicht gut angesehen. Wer also die sogenannte Wehrpflicht reaktivieren will, tut gut daran, vermeintlich gesellschaftlich nützliche zivile Dienste zu betonen. Widerspruch kam von Linkspartei, Grünen und FDP und Teilen der SPD: Sie lehnen die mit Zwangsdienst verbundene Freiheitseinschränkung und die staatliche Bevormundung ab. Die FDP betont den volkswirtschaftlichen Schaden. Die Linke sieht Zwangsdienst als Teil von Aufrüstung und Militarisierung.

Wie wahrscheinlich sind alte oder neue Zwangsdienste?
Die Bundeswehr wurde drastisch verkleinert und gleichzeitig zur weltweit einsetzbaren Interventionstruppe umgebaut, zu der sogenannte Wehrpflichtige schlecht passen. Doch nun soll massiv aufgerüstet werden, auch für Krieg in Europa. Gleichzeitig fällt es der Bundeswehr schwer, ihre Rekrutierungsziele zu erreichen. Die Option der Zwangsrekrutierung wurde bewusst offen gehalten, als der Zwang 2011 nur ausgesetzt und nicht abgeschafft wurde. Die nötigen Institutionen wurden beibehalten.
Der damalige Wehrbeauftragte Bartels (SPD) nannte 2018 eine allgemeine Dienstpflicht „eine sympathische Idee“ (5), der aber das Verbot der Zwangsarbeit entgegenstehe. Er plädierte für eine „Auswahlwehrpflicht“, wie sie schon 2000 vorgeschlagen war und wie sie in Schweden und Norwegen für Männer und Frauen praktiziert wird. Im Juni 2018 wurde für den Bundestag ein Gutachten über die „Wiedereinführung der Wehrpflicht in Schweden“ erstellt. Mit der „Auswahlwehrpflicht“ wäre es hinfällig zu argumentieren, die Reaktivierung des Kriegsdienstzwangs sei organisatorisch, strukturell und finanziell nicht machbar. Die Bundeswehr würde gemäß ihrer Kapazität einberufen. Kramp-Karrenbauer pries den französischen Service national universel als „spannendes Modell". (6)
Entsprechend der Entwicklung in anderen Staaten werden Frauen in Zukunft in Deutschland von etwaigen Zwangsdiensten kaum verschont bleiben.

Zwangsarbeitsverbot
Einer Dienstpflicht ohne Bezug zum Militärdienstzwang steht das Verbot der Zwangsarbeit entgegen. Artikel 12 GG erlaubt Zwangsarbeit nur im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht und bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung. Die Menschenrechtskonventionen von Europarat und UN verbieten Sklaverei und Zwangsarbeit mit Ausnahme von Militärdienst und Militärersatzdienst. Allerdings ist zu bedenken, dass Staaten, wenn es um Krieg, Militär und Zwangsdienste geht, sich häufig ungestraft über Rechtsvorschriften hinwegsetzen.

Schlussfolgerungen für die Friedensbewegung
Die Friedensbewegung sollte kein Interesse daran haben, dass Menschen ins Militär gehen, ob freiwillig oder gezwungen. Jede Zwangsrekrutierung ist eine Menschenrechtsverletzung und ein Akt der Gewalt mit Freiheitsberaubung und Aufhebung der Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit, und bedeutet auch entwürdigenden Musterungen, Gewissensprüfungen, juristische und politische Verfolgung sowie die Zerstörung von Lebens- und Berufswegen.
Die Bundeswehr gebärdet sich als Verteidigungsarmee. Doch das war sie nie. Denn jede Armee ist gegenüber ihren Opfern eine Angriffsarmee.
Eine konsequente Friedensbewegung muss alle militärischen und zivilen Zwangsdienste ablehnen, aufgrund friedenspolitischer und menschenrechtlicher Erwägungen.

Anmerkungen
1 Warum „sogenannte Wehrpflicht“? Wehrpflicht und Wehrdienst und davon abgeleitete Begriffe suggerieren bezüglich des zwischenstaatlichen Verhältnisses, dass das Militär der Verteidigung diene. Allerdings haben sogenannte Wehrdienstleistende schon viele Angriffskriege geführt. Das gilt gerade für Deutschland. Im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Staat ist der Begriff ebenfalls abwegig. Wehrdienst leisten gerade diejenigen, denen es nicht gelingt, sich erfolgreich gegen die Rekrutierung zum Militär zu wehren. Deshalb verwende ich diese sachlich unzutreffenden und realitätsverschleiernden Propagandabegriffe nicht.
2 Lena Rackwitz: Zu den Waffen, Genossen – Die allgemeine Wehrpflicht sollte wieder eingeführt werden. Jungle World 14.6.2018, https://jungle.world/artikel/2018/24/zu-den-waffen-genossen.
3 Video 7. August 2018, 05:20 https://www.sueddeutsche.de/politik/wehrpflicht-debatte-deutschland-brau...
4 Gernot Lennert: Zwangsmilitärdienst ist kein Mittel gegen Rechtsextremismus. www.dfg-vk-hessen.de/fileadmin/Dokumente/Hessen/2021/OM/OM21FGL.pdf
5 Die Welt 5.8.2018  https://www.welt.de/politik/deutschland/article180588522/Umfrage-Mehrhei....
6 CDU-Debatte: Darum geht es bei der allgemeinen Dienstpflicht. SZ 28.11.2019. https://www.sueddeutsche.de/politik/dienstpflicht-gesellschaftsjahr-cdu-....

Dr. Gernot Lennert ist Historiker und Politologe und Landesgeschäftsführer der DFG-VK Hessen.
    

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Gernot Lennert ist Landesgeschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen Hessen.