Aus dem 2. Weltkrieg lernen

Kurze Geschichte der Friedensdienste

von Ulrich Frey

Friedensdienste waren nach der Katastrophe des 2. Weltkrieges insbesondere für Deutsche - das eigene Land und große Teile Europas lagen damals in Trümmern und das internationale Ansehen der Deutschen fast bei null - eine Chance, die eigene Geschichte aufzuarbeiten, wieder Anschluss an die übrige Welt zu gewinnen und an ihrem Wohl mitzuarbeiten. Die Geschichte der Friedensdienste in Deutschland ist deshalb intensiver als die vergleichbarer Dienste in anderen europäischen Ländern. Heute beteiligen sich Friedensdienste in Gestalt von kurzfristigen Hilfs- und Sozialdiensten, Verständigungsdiensten, längerfristigen Versöhnungs- und sozialen Lerndiensten, langfristigen professionellen Entwicklungs- und Friedensfachdiensten daran, Gewalt, Unfreiheit, Not und destruktive Aggression weltweit, in Europa und im eigenen Land zu vermindern.(1) Friedensdienste sind im Wesentlichen in und am Rande der christlichen Kirchen entstanden. Sie arbeiten mit ihren Freiwilligen auf der "Graswurzelebene" und verstehen sich als "agents of change" für einen gerechten Frieden. Evangelisch ausgerichtete Friedensdienste sind wie die Evangelischen Akademien und der Deutsche Evangelische Kirchentag ein Markenzeichen des deutschen Protestantismus nach 1945.

1. Phase 1945 - 1949: Aufbau und Anschluss an Europa nach dem Weltkrieg
In der unmittelbaren Nachkriegszeit entstehen erste Jugend- und Lerndienste. Die wichtigste Aufgabe ist, Not zu lindern, das zerstörte Land wieder aufzubauen und nach zwölf Jahren in der Nazi-Isolation erste Kontakte ins Ausland zu knüpfen. Die Aktivsten nicht nur der Jugendorganisationen, sondern auch die der entstehenden Parteien, Gewerkschaften und Kirchen sind aus dem Krieg und aus dem Reichsarbeitsdienst zurückgekehrte Männer und Frauen, die dort ihre Lektion für das weitere Leben gelernt haben. Pädagogisch zum Tragen kommen die Ideen der in der Nazizeit unterdrückten Bildungsreformbewegung (Borinski) und von Eugen Rosenstock-Huessy.

Die Internationalen Jugendgemeinschaftsdienste (IJGD), 1949 gegründet, entwickeln sich aus Workcamps zur Aufforstung im Harz. 1946 wird der deutsche Zweig des Service Civil in Hamburg gegründet. Der Christliche Friedensdienst (CFD) gruppiert sich neu, ebenso der Mennonite Voluntary Service und die von den Quäkern inspirierte Nothelfergemeinschaft der Freunde. Relief-Teams der historischen Friedenskirchen (Quäker, Brethren) lindern in Europa die Not von Flüchtlingen. In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) wird 1946 die FDJ gegründet. Das bedeutet die Umstrukturierung der Jugendarbeit im Osten Deutschlands in Richtung "Sozialismus".

Wichtige politische Hintergründe dieser Phase waren die Spaltung Deutschlands als Folge des 2. Weltkrieges und der Beginn des "Kalten Krieges" zwischen Ost und West, vollzogen u.a. durch die Währungsreform (20. Juni 1948), die Gründung der Bundesrepublik Deutschland (23. Mai 1949) mit Annahme des Grundgesetzes und des Besatzungsstatuts und die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) am 30. Mai 1949.

2. Phase: Getrennter Auf- und Ausbau im geteilten Deutschland und Europa, Beginn eines weltweiten Engagements
Diese 2. Phase ist pädagogisch geprägt von einer starken Politisierung. Die Jugend- und Lerndienste verstehen sich zunehmend nicht nur als Einrichtungen zur Entwicklung von Gemeinschaft, sondern auch der Gesellschaft. Sie ergreifen Partei, anfangs auch als Protest gegen restaurative Tendenzen. Von Bedeutung zur Strukturierung der internationalen Jugendarbeit und damit der Friedens- und Freiwilligendienste ist der Bundesjugendplan ab 1950, das Gesetz über ein freiwilliges soziales Jahr (1964), das Deutsch-Französische Jugendwerk (DFJW) ab 1963, das Deutsch-Polnische Jugendwerk (DPJW) ab 1991.

Dramatische Strömungen, die die Friedensdienste erfassen und von diesen in ihren Programmen aufgenommen werden, sind u.a. die Europa-Bewegung. Ihre Aktiven reißen die Grenzsperre auf der Rheinbrücke Kehl - Straßburg nieder. Öffentlich wirksam sind die Anti-Atombewegung nach dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO 1955, die Forderungen der anerkannten Kriegsdienstverweigerer nach Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1956 für einen Friedensdienst, die Beteiligung an der "Dritte-Welt-Bewegung" ab Mitte der 60-er Jahre gegen Kolonialismus und für Gerechtigkeit (Unterstützung von Befreiungsbewegungen, z.B. in Nicaragua), die Einflüsse aus der Studentenbewegung und der "antiautoritären Erziehung" nach 1968, die Unterstützung der politischen Bemühungen zur Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnischer Ostgrenze anlässlich des Vertrages mit Polen 1970. Die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) und die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) organisieren die erste große Demonstration und Kundgebung der Friedensbewegung am 10. Oktober 1981 gegen die atomare Nachrüstung mit langfristig wirkenden Folgen für die politische Bewusstseinsbildung in Deutschland. Friedensdienste aller Kirchen, u.a. die katholische Pax Christi-Bewegung, etablieren ab 1983 in Deutschland den Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Sie ergreifen die Initiative zur "Versöhnung mit den Völkern der Sowjetunion" aus Anlass des Jahrestages des Überfalls der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 und fördern die Friedenserziehung gegen Feindbilder, die sich aus dem Systemkonflikt Ost-West und dem Wettrüsten ableiten. Die Verbindungen zu Partnerorganisationen in Europa und anderen Erdteilen werden systematisch ausgebaut.

EIRENE - Internationaler Christlicher Friedensdienst - wird 1957 vom Mennonite Central Committee, Brethren Service Commission und dem Internationalen Versöhnungsbund als Reaktion auf den algerischen Befreiungskrieg gegründet. Die ersten Freiwilligen arbeiten mit algerischen Flüchtlingen in Marokko. 1971 wird EIRENE als Träger des Entwicklungsdienstes anerkannt, 1976 beginnt als längerfristiger Dienst in den "Nordländern" das "Nordprogramm", 1980 der "Solidarische Lerndienst" in "Südländern".

1958 ruft Lothar Kreyssig bei der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland in Spandau zur Gründung der Aktion Sühnezeichen (später: Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) als gesamtdeutsche Initiative auf. "Es ist noch kein Frieden, weil zuwenig Versöhnung unter den Völkern ist". Die Versöhnungsdienste beginnen mit Aufbauprojekten in Norwegen, Griechenland und Rotterdam. Ab 1967 arbeitet ASF in Gedenkstätten in der Volksrepublik Polen (Aufnahme der diplomatischen Beziehungen erst 1972!), ab 1960 in Israel (während des Eichmann-Prozesses, Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel erst 1965!).

1959 wird der Vorläufer des Weltfriedensdienstes (WFD), die "Arbeitsgemeinschaft Weltfriedensdienst" gegründet, zunächst auch unter Beteiligung des SCI und des CFD. Der geistige Namensgeber ist Eugen Rosenstock-Huessy mit seiner Idee eines "Dienstes auf dem Planeten".

Nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 können früher gesamtdeutsch arbeitende Organisationen wie z.B. die Aktion Sühnezeichen nur noch im Westen oder Osten tätig sein. In der DDR werden kirchliche Initiativen von der SED-gesteuerten FDJ an den Rand gedrängt. Trotzdem veranstaltet die Aktion Sühnezeichen (Ost) "Lager" und etabliert eigenständige Kontakte nach Polen. Die westdeutschen Organisationen halten Kontakt zu den kirchlichen Initiativen, aber auch zur FDJ.

1969 finden sich christliche Friedensdienste in dem Dachverband Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) zusammen, der heute 34 Mitglieder zählt.

3. Phase 1989 - 2007: Zusammenwachsen in Deutschland und Europa und weltweites Engagement
Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland und das Ende der Sowjetunion am 25. Dezember 1990 bewirken, dass der Systemkonflikt Ost-West entfällt. Dafür drängen aber massiv bisher verdeckte Konflikte auf den politischen Plan: ethnische Auseinandersetzungen, Probleme aus der Transformation von ehemals sozialistischen Staaten, Zerfall von Staaten, ökonomische Probleme infolge der Globalisierung. Neue Problemlagen sind zu erkennen und zu bewältigen: Friedensdienste arbeiten für das Zusammenleben verschiedener Ethnien im zerfallenden Jugoslawien und retten Flüchtlinge. Sie schützen Menschenrechte in Lateinamerika und kämpfen gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in Deutschland. Die EU richtet den Europäischen Freiwilligendienst (1996) als den ersten institutionell geförderten längerfristigen Freiwilligendienst auf dem Kontinent ein. Die neueste Innovation ist der Zivile Friedensdienst als entwicklungspolitisches und gewaltfreies Instrument zur Intervention in gewaltförmigen Konflikten. Friedensdienste der AGDF und der Bund für Soziale Verteidigung bzw. das Forum Ziviler Friedensdienst starten im Jahre 1996 mit Kursen zur Ausbildung von Friedensfachkräften für die zivile Konfliktbearbeitung. Entwicklungsdienste, Friedensdienste und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) schaffen 1999 das Gemeinschaftsprogramm Ziviler Friedensdienst. Diese Friedensfachdienste stellen wie die Dienste der Entwicklungsdienste hohe Anforderungen an die persönliche und sachliche Qualifikation, haben also nicht mehr den Charakter von Lerndiensten. Friedensarbeit ist auch hier der Ernstfall.

Heute ist "Friedensdienst" eine sicher noch schwache gesellschaftliche Institution und steht für

  • die Stärkung von Gewaltfreiheit in der alltäglichen gesellschaftlichen und politischen Praxis gegen direkte und strukturelle Gewalt,
  • die Förderung von sozialer Gerechtigkeit - national und international - gegen Armut, Unbildung und Benachteiligung von Frauen,
  • die Durchsetzung der Menschenrechte gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit,
  • Bewahrung der Schöpfung gegen die Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen.

Anmerkung

  1. Zusammenfassende historische Aufarbeitungen sind rar. Die Geschichte der Friedensdienste ist noch nicht geschrieben. Aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts sind an Texten u.a. zu nennen: Claessens, Dieter/ Danckwortt, Dieter, Jugend in Gemeinschaftsdiensten, Juventa-Verlag, 1957; Eichborn, Wolfgang von, Freiwillige für den Frieden, Kohlhammer, 1970; Warneck, Wilfried, Friedensdienst - Sandkastenübung oder Element politischer Alternative?, in: "Aus Politik und Zeitgeschichte". Eine Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 11/79 vom 17.3.1979, S. 30 - 53; Frey, Ulrich, Nachdenken über die Gegenwart und Zukunft von freiwilligen Jugend- und Lerndiensten, unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrages beim Arbeitskreis Lernen und Helfen in Übersee e.V. am 6.2.1999; Voß, Reinhard, "Geschichte der Friedensdienste in Deutschland", in: Evers, Tilman, Ziviler Friedensdienst - Fachleute für den Frieden, Opladen, 2000, S. 127 ff; Frey, Ulrich, Dienst an Frieden und Gerechtigkeit unter dem Leitbild des "gerechten Friedens", Denkanstöße zu einem friedenspolitischen Grundsatzpapier der AGDF, unveröffentlichtes Manuskript, 2002, mit weiteren Nachweisen; Berndt, Hagen, Wurzeln und Geschichte der zivilen, gewaltfreien Konfliktbearbeitung, in: zivil statt militärisch. Erfahrungen mit ziviler, gewaltfreier Konfliktbearbeitung im Ausland, Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden, Bonn, 2006.

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Ulrich Frey ist Mitglied im SprecherInnenrat der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung.