Lebenslange Freiheitsstrafe abschaffen!

von Martin Singe
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Das Recht, und so auch das Strafrecht, soll in internationaler Hinsicht als Völkerrecht dem zwischenstaatlichen Frieden und innerstaatlich dem inneren Frieden dienen. Im Folgenden möchte ich der Frage nachgehen, ob extreme Strafformen - wie sie in der Bundesrepublik angewandt werden - diesem Ziele in der Tat dienlich sind. Dies soll am Beispiel der extremsten Strafform, der lebenslangen Freiheitsstrafe, geschehen.

Die lebenslange Freiheitsstrafe ist als Ersatz für die Todesstrafe erfunden worden, ursprünglich zum Zwecke, härter als (nur) mit dem Tode strafen zu können. In der BRD wird die lebenslange Freiheitsstrafe (LL) in fast 95% aller Fälle für Mord verhängt. Der aus der Nazizeit übernommene "Mörderparagraph" des Strafgesetzbuches (_ 211 StGB) definiert als einziger den Täter statt die Tat ("Mörder ist, wer ..."). Heutzutage hält sich hartnäckig das Gerücht, LL bedeute ja "nur noch" 15 Jahre. Die Praxis zeigt jedoch ein ganz anderes Bild. 15 Jahre sind die Mindesverbüßungsdauer, 22 Jahre ist die Durchschnittsverbüßungszeit, viele sitzen also auch länger als 30 Jahre ein. Für ca. 1/5 bis 1/6 der Täter (Täterinnen gibt es bei Mord verhältnismäßig sehr wenige) bedeutet LL auch real lebenslänglich: sie sterben im Knast. Ständig befinden sich rund 1200-1300 Personen mit dem Urteil LL in Haft. Die durchschnittlichen Verbüßungsdauern sind seit Einführung der Schuldschwereklausel (die "Schwere" der Schuld und die "Gefährlichkeitsprognose" entscheiden über Haftfortsetzung nach 15 Jahren) länger statt kürzer geworden, vergleicht man die Haftdauern mit den Haftzeiten, die z.Zt. der Gandenpraxis üblich waren.

Das Komitee für Grundrechte und Demokratie hat in Kooperation mit etlichen anderen bundesweit tätigen Initiativen vor allem aus dem Strafrechtsbereich eine Petition zur Abschaffung der LL mit über 4.000 Unterschriften dem Bundestag unterbreitet, der diese vor kurzem abschlägig beschieden hat, mit Argumenten, die sich nicht gerade auf der Höhe der Debatte befinden. Die Argumente gegen die LL sind seit langem in der kriminologischen Fachwelt bekannt, doch weigert sich die herrschende Politik, rationale Einsichten auch in praktische Politik umzusetzen und das Strafrecht gründlich zu reformieren. Für eine Experten-Anhörung zum Thema LL konnte das Grundrechte-Komitee zur Abschluß-Podiumsdebatte keinen einzigen SPD-Bundestagsabgeordneten finden, der für die Abschaffungsforderung eingetreten wäre. Inzwischen hat sich als erster SPDler der scheidende (!) Kieler Justizminister Klingner für die Abschaffung stark gemacht. Damit steht eine realpolitisch aussichtsreiche Abschaffung natürlich noch in weiter Ferne.

Die zentralen Argumente gegen die LL können wie folgt zusammengefasst werden:

-     Die Strafe nützt den Opfern nicht, Opferhilfe wird nur vorgetäuscht; stattdessen wäre wirkliche unbürokratische psychische und finanzielle Opferhilfe vonnöten.

-     Die Strafe nützt potentiellen Opfern nicht: die Abschreckungswirkung - die Prävention - wird immer wieder als Hauptargument vorgetragen, ist jedoch empirisch nicht belegbar. In Ländern, in denen die LL abgeschafft wurde, hat sich die Zahl der Tötungsdelikte nicht erhöht. Auch die Anwendung der Todesstrafe in den USA zeigt, daß Gewalt-Kriminalität in den Ländern mit Todesstrafe eher höher ist als in den anderen Ländern ohne Todesstrafe. Mordtaten geschehen in der Regel in zugespitzten Konfliktsituationen, ohne daß sich die Täter im Vorhinein einer rationalen Folgenabwägung unterziehen würden.

-     Die Strafe nützt den Tätern nicht. Wenn Resozialisierung das Ziel von Strafen sein soll, verfehlt die LL dieses Ziel gründlich. Es geschieht in Wahrheit Desozialisierung. Die Haftdauer führt zu oft irreparablen psychischen Schädigungen, das Selbstwertgefühl wird zerstört, soziale Bindungen werden aufgelöst, die materielle Existenzmöglichkeit wird weitgehend vernichtet. Jede über die Zeit von 10 Jahren hinausreichende Haftdauer führt nach nahezu einmütigem Urteil von Psychologen zu nicht mehr rückgängig machbaren Schädigungen. Bei LL führt die Ungewissheit über die Haftdauer zu zusätzlichen Belastungen, da die Betroffenen sich nicht auf ein absehbares Straf-Ende hin einen Lebensplan entwerfen können. Die Strafform ist damit auch grundrechtswidrig. Sie nimmt dem Bestraften seine Würde und macht ihn zum Objekt staatlichen Strafanspruchs. Der Täter wird als "Mörder" gebrandmarkt und auf diese Tat, als zu seinem Wesen gehörige, für alle Zeiten - lebenslänglich - festgelegt, eine Veränderungsmöglichkeit wird ihm nicht mehr zugestanden.

-     Die Strafe dient nicht der Aufarbeitung der Tat. Vielmehr wird schon im Strafprozess selbst eine Auseinandersetzung mit der Tat eher verhindert, denn befördert. Der sich Verteidigende (und sein Verteidiger) hat nur eine Chance, dem LL-Urteil zu entkommen, wenn er die Tat möglichst "klein" zu machen versucht, also folglich ihr auch psychisch auszuweichen sucht. Die Bedrohung mit LL schreckt vor einer Übernahme von Verantwortung für die Tat ab. Zudem ist es der Staat selbst, der sich im Strafprozess an die Stelle des Opfers setzt und die Bestrafung mit LL fordert. Auch so wird eine Inbeziehungsetzung der Tat mit den Opfern und Angehörigen der Opfer eher vermieden. (Ein Argument, das generell die Problematik des Strafrechts als staatlicher Strafform beleuchtet, da so Alternativen wie konfliktregulierende Vereinbarungen zwischen Tätern und Opfern, verstellt!)

-     Alternativen zur LL sind vorhanden. Zunächst wäre eine Höchststrafe von maximal 10 Jahren anzusetzen und das gesamte Gefüge der langandauernden Haftstrafen zu reformieren. Täter-Opfer-Ausgleichsbemühungen (auch mit den Angehörigen) müssten intensiviert werden. Der Aufarbeitung der Tat und der wirklichen Resozialisierung mit psychosozialen Angeboten müsste Raum gegeben werden. Die sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und Voraussetzungen von Gewalttaten sind zu thematisieren und praktisch zu bearbeiten. Die Täter selbst wollen in aller Regel Verantwortung für ihre Tat übernehmen, viele haben den Wunsch, irgendetwas wieder gutmachen zu müssen - irgendwie noch einmal beweisen zu dürfen, daß sie der Gesellschaft gegenüber etwas Gutes geben können. Ein LLer sagte einmal, sein größter Wunsch wäre es, als Alten- oder Krankenpfleger arbeiten zu dürfen. Aber - so folgerte er - wer würde denn glauben, daß "Mörderhände" pflegen können.

Wie kommt es nun, daß trotz all der rationalen Argumente, die immer wieder vorgetragen wurden und werden, das Strafmaß LL - und in anderen Staaten noch weitergehender Strafformen bis hin zu Todesstrafe - nicht zu "knacken" sind. Es sind - so hat das Grundrechte-Komitee in seinen dokumentierten Fach-Anhörungen festgestellt, tiefere, im Staat selbst sitzende Gründe, die diese äußerste Strafform aufrechterhalten lassen. Nicht die Ehrfurcht vor dem Leben als dem höchsten Gut - wie immer wieder von Politikerseite behauptet - ist der Grund für die Beibehaltung von LL, sondern eher der Versuch der Beförderung von Bürgerinnen-Ehrfurcht vor dem Staat selbst. Er legitimiert sich und sein Gewaltmonopol durch solch extreme Strafformen in besonderer Weise. Und zudem haben solche - aber auch geringere Zeiten dauernde - Gefängnisstrafen eine die Bevölkerung als ganze exkulpierende (entschuldigende) Wirkung. Indem das Böse im verurteilten Täter sitzend gesehen wird, in seiner Person allein tief verwurzelt, werden die gesellschaftlichen Zusammenhänge und Ursachen, die Gewalttaten mitbedingen, ausgeblendet. BürgerInnen können sich in der Illusion ihrer eigenen moralischen Vortrefflichkeit sonnen, wenn sie auf die Schatten der Gefängnismauern blicken, die die von der Gesellschaft isoliert Eingekerkerten trostlos umgeben.

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".