Kritik

Mainstream-Kritik – bloß nicht unbesehen kritisch!

von Albert Fuchs

Kein Zweifel, an der Mainstream-Berichterstattung und -Kommentierung zur Syrienkrise gibt es, wie bei Libyen und den anderen Großkonflikten seit der Epochenwende, manches auszusetzen. Um das zu „sehen“, muss man nicht einmal mit einer friedensjournalistischen Schutzbrille gegen das alltägliche Infogeflirre der Leitmedien ausgerüstet sein. Selektivität, Schwarz-Weiß-Malerei und Einseitigkeit in den Hauptnachrichtensendungen nicht zuletzt der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und in den Spalten überregionaler Tageszeitungen sind geradezu mit Händen zu greifen. Jede differenzierende oder auf Hintergründe abstellende oder die Perspektive der Gegenseite einnehmende „andere Stimme“ kann da als rettendes Eiland in der Flut der Gräuelmeldungen und Beschuldigungen erscheinen, die bloße Tatsache der Abweichung vom Mainstream als Siegel der Glaubwürdigkeit. Aber das ist nicht ohne Risiko. Und wer aus der „Schlacht der Lügen“ am Golf 1990/91 (1) und aus den folgenden Infokriegen die Lehre gezogen hat, dem Mainstream grundsätzlich zu misstrauen, ist vielleicht diesem Risiko in besonderer Weise ausgesetzt. Ein eigener „Reinfall“ auf Gegen-„Information“ zur Entwicklung der Syrienkrise mag lehrreich sein.

Anfang März wurde ich auf den erklärtermaßen mainstream-kritisch gemeinten Beitrag „Die Mehrheit der Syrer steht offenbar hinter Assad“ von Martin Sturzenegger im Zürcher Tages-Anzeiger vom 29.02.2012 aufmerksam gemacht. Die Artikelüberschrift bezieht sich auf eine im Dezember 2011 vom dem Meinungsforschungsinstitut YouGov im Auftrag der Qatar Foundation in der „Arab World“ durchgeführte Meinungsumfrage, die, abgesetzt von einem Interview mit dem Mainzer Orient-Experten Prof. Günter Meyer, das den übrigen Beitragstext ausmacht, wie folgt referiert und kommentiert wurde: „Gemäß der Qatar Foundation stehen zurzeit 55 Prozent der syrischen Bevölkerung hinter Assad. Hinter der Stiftung steht der Emir von Katar, einer der größten Bekämpfer des syrischen Machthabers. Die Zahlen dürften also verlässlich sein.“ Herr Meyer berief sich in dem Interview offensichtlich auf die gleiche Befragung mit der Behauptung: „Laut einer repräsentativen Untersuchung, die ausgerechnet im Auftrag von Katar, einem der größten Gegner des Assad-Regimes, durchgeführt wurde, steht die Mehrheit der syrischen Bevölkerung hinter Bashar al-Assad.“

Nach allzu „gutgläubiger“ Weiterempfehlung dieses Beitrags wurde ich dankenswerterweise von Freunden darauf hingewiesen, dass die fraglichen Interpretationen aufgrund der Anlage der Studie wie in Anbetracht differenzierterer Ergebnisse hoch problematisch sind. Sieht man sich den Untersuchungsbericht genauer an,(2) ist in der Tat festzustellen:

  1. Die Befunde basieren auf einer Online-Befragung unter 220 000+ BesucherInnen des regionalen Internet-Portals von YouGov, von denen 1 012 – also 0,46% des gesamten Pools – Mitte Dezember 2011 an der fünf bis sieben Minuten in Anspruch nehmenden Beantwortung der Fragen teilnahmen (S. 3 des Berichts).
  2. Das effektive Panel entstammte (wie das potenzielle) der (gesamten) „Arabischen Welt“; lediglich 211 InformantInnen kamen aus der Levante, davon 46% (also 97 Personen) aus Syrien, 20% (42) aus Jordanien, 16% (34) aus Palästina, 12% (25) aus dem Libanon und 5% (11) aus dem Irak (S. 6).
  3. Auf die kritische Frage, ob Präsident Assad zurücktreten solle („In your opinion, should Syria’s President Assad resign?“), antworteten 45% der SyrerInnen (gegenüber 64% aller LevantinerInnen) mit Ja und 55% (36%) mit Nein (S. 11) – d.h. 44 SyrerInnen (135 LevantinerInnen) lehnten Assads Verbleib im Amt ab, 53 (76) befürworteten ihn.
  4. Auf die ebenfalls relevante Frage nach dem besten Szenario für Syrien („From your perspective, which one of the following scenarios would be the best for Syria’s future?“) qualifizierten 51% derjenigen SyrerInnen, die an Assad festhalten wollten (also 27 Personen), ihre Zustimmung dahingehend, dass es am besten für Syrien sei, wenn in naher Zukunft garantiert freie demokratische Wahlen durchgeführt würden (statt Assad bloß an der Macht zu behalten) (S. 12).
  5. Auf die Frage schließlich, warum hauptsächlich man ggf. Assads Verbleib im Amt befürwortet („What are the main reasons why you believe President Assad should NOT resign and should remain in power? - Please select the top 3 reasons for your opinion.“), gaben 52% der betreffenden LevantinerInnen (40 Personen) an, man wolle keine Verhältnisse wie im Irak, 36% (27) meinten, Assad sei der beste Präsident für Syrien (S. 15).

Diese Fakten und Zahlen sprechen für sich, sowohl was die zweifache Selbstselektion angeht – als BesucherIn des fraglichen Portals und als tatsächliche InformantIn –, wie für die (natürlich ebenfalls zweifach selbstausgewählte) Ministichprobe der 97 teilnehmenden SyrerInnen. Und selbst für diese Ministichprobe gilt, dass die „Mehrheit“ (von den 53 Assad-treuen InformantInnen) sich nicht „unbedingt“ zu Assad bekannte: 27 wünschten „in naher Zukunft“ garantiert freie demokratische Wahlen.

Im Ergebnis bleibt „ent-täuscht“ festzuhalten: Der mainstream-kritische Beitrag von Sturzenegger & Meyer hat, soweit er sich auf die YouGov-Erhebung vom Dezember 2011 stützt, effektiv Bluff-Charakter; wer also dem humanitär drapierten und mainstream-getriebenen (westlichen) Interventionismus seit der Epochenwende von 1989/90 auch im Falle Syriens nicht zuletzt aus völkerrechtlichen und politisch-moralischen Gründen kritisch gegenüber steht, kann nur hoffen, dass die sonstigen Tatsachenbehauptungen Meyers unter Berufung auf andere, persönliche Informationsquellen besser fundiert sind.

Im Lichte des besonderen Rangs des Wahrheitsgehalts erscheint mir nicht nur vertretbar, sondern angezeigt, eventuelle pragmatische Bedenken gegen die Offenlegung eigener bzw. eigenseitiger informationeller Fehlleistungen zu vernachlässigen. Was würde ein Mainstream-Kritiker von einem Mainstreamer erwarten, der eine kaum zu bezweifelnde informationelle Fehlleistung geliefert hat? Ich denke: Dass der Mainstreamer, wenn er seine Fehlleistung erkennt, dazu steht und sie korrigiert. Unter ethischen Gesichtspunkten ist es aber nur billig, an sich selbst oder politisch Gleichgesinnte den gleichen Maßstab anzulegen wie an Kontrahenten.

Anmerkungen
1) MacArthur, J. R. (1993): Die Schlacht der Lügen. Wie die USA den Golfkrieg verkauften. dtv, München

2) Verfügbar unter: http://clients.squareeye.net/uploads/doha/polling/YouGovSirajDoha%20Deba... Zugriff: 19.03.2012

Ausgabe

Rubrik

Krisen und Kriege

Themen