"Müssen wir denn immer mit dem Schwert leben?"

von Michael Schlickwei
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

"Unser bin Laden heißt Arafat" verkündet Ariel Scharon in diesen Tagen und spricht vielen Israelis aus dem Herzen. "Nun erfahrt ihr endlich, was es heißt, mit dem Terrorismus zu leben" schreiben Freunde aus Israel. Im Windschatten des weltweiten Schocks nach den Terroranschlägen von New York und Washington schlägt die israelische Armee indes in den autonomen palästinensischen Gebieten unbarmherzig zu. Das Kalkül der israelischen Regierung, nach dem sich kaum jemand darüber aufregen wird, wenn israelische Panzer etwa das in der Westbank gelegene Dschenin unter Beschuss nehmen, geht auf.

Die bis zu Camp David und dem anschließenden Beginn der "Intifada der Unabhängigkeit" analysierten Brüche innerhalb der israelischen Gesellschaft scheinen in diesen Tagen wie durch ein Wunder überwunden. Die von Scharon und Peres geführte Regierung eint wie schon seit Jahren nicht mehr alle politischen und sozialen Strömungen im Land. Dieser Zusammenschluss basiert auf der Einschätzung, dass Arafat sich als Gegner des Friedens enttarnt hat, als er in Camp David die Vorschläge des damaligen Premier Barak zu einem Friedensvertrag ablehnte und kurze Zeit danach die Intifada wenn nicht selbst auslöste, so doch tolerierte. "Mit den Waffen, die wir ihnen gaben, beschießen sie uns nun", so ein aktives Mitglied der israelischen Friedensbewegung im Gespräch.

Ob die Vorschläge Baraks, die zweifellos alle Angebote einer israelischen Regierung an die Palästinenser weit hinter sich ließen, tatsächlich akzeptabel waren für Arafat, wird in Israel kaum diskutiert. Neben den inhaltlichen Differenzen etwa bei der Jerusalemfrage scheint auch nicht unwichtig gewesen zu sein, dass Barak seine Vorschläge nach dem Motto "Take it or leave it" präsentiert hat. Eine Verhandlungsführung, die beide Seiten als gleichberechtigte Partner anerkennt, wurde so verunmöglicht.

Doch die vermeintliche Einheit der israelischen Regierung und der jüdisch-israelischen Bevölkerung ist brüchig. Beobachter in Israel gehen davon aus, dass sie sofort beendet sein wird, wenn für mehrere Tage jegliche Angriffe auf israelische Siedlungen und Soldatenposten unterblieben und keine Bombenanschläge Israel erschüttern würden.

Die israelische Regierung würde genau in diesem Augenblick in eine tiefe Krise stürzen, müsste sie dann laut allgemein anerkanntem Mitchel-Plan zu direkten Verhandlungen mit Arafat bereit sein. Außerdem müsste die Regierung einen Baustopp in allen Siedlungen innerhalb der Westbank und Gaza verfügen. Maßnahmen, die weder Scharon, noch die Mehrheit der israelischen Regierungskoalition wollen, wohl aber die Arbeitspartei. Scharon ist der Auffassung, dass das "zionistische Projekt" noch nicht vollendet ist. Er sieht sich mit dem Problem konfrontiert, dass der arabische Anteil an der israelischen Bevölkerung zunimmt. Mit der Annektion der Westbank würde aus der jüdisch-israelischen Bevölkerung binnen weniger Jahre eine Minderheit, gleichzeitig führt die dauerhafte Besiedlung der Westbank durch jüdisch-israelische Gruppen, die Scharon offensiv unterstützt, zu der Unmöglichkeit, beide Völker mittels einer Mauer dauerhaft zu trennen, wie es vor allem Teilen der Arbeitspartei als Lösung vorschwebt. Da kein palästinensischer Führer Scharons Angebot auf 42% der Westbank für ein autonomes Gebiet akzeptieren wird, bleibt als Alternative die anhaltende Besatzung der Westbank mit den autonomen Städten als isolierte Einheiten, die jederzeit mit Panzern besetzt werden können, oder die Vertreibung der Palästinenser nach Jordanien und Ägypten. Das wäre allerdings nur im Rahmen eines regionalen Krieges möglich, vergleichbar mit denen von 1948 und 1967. Auf die Frage "Müssen wir denn immer mit dem Schwert leben?" antwortet Scharon der israelischen Tageszeitung Ha`aretz: "Ein normales Volk stellt solche Fragen nicht" und meint damit eindeutig: "Ja".

Arafat und die Palästinenser sind auf den Konflikt wie immer weder strategisch noch politisch vorbereitet. Wenn Arafat nach den Terroranschlägen von New York öffentlich Blut spendet, zeigt das nur, wie bedrohlich seine Lage geworden ist.

Der Fortschritt von "Oslo" war u.a. die Zusage, dass die Konflikte ausschließlich über Verhandlungen, also zivil, gelöst werden sollen. Nachdem Arafat diesen Weg in Camp David als gescheitert erklärt hat, wurde grausame Gewalt zum zentralen Merkmal der Auseinandersetzung. Viele Gründe gibt es für die Palästinenser, "Oslo" als gescheitert zu begreifen: Die Straßen, die die Westbank nun durchziehen, die Siedlungen, die in den letzten Jahren expandierten, sind nur die augenfälligsten. Jedoch war von Beginn an die Intifada nicht darauf angelegt, mit einer Mobilisierung der Bevölkerung Israel zu erneuten und ernsthaften Verhandlungen zu zwingen. Im Gegenteil, Selbstmordattentäter und bewaffnete Einheiten benutzten Zivilisten als Schutzschilde für ihre militärischen Operationen und erweckten einen bis dahin nicht gekannten Rassismus mit deutlichen Vernichtungsphantasien, der wiederum von den politischen Führungen sanktioniert wird.

Der vermummte (männliche) Selbstmordattentäter mit der Knarre in der Hand ist zum Synonym des palästinensischen Widerstands geworden. Auf Beerdigungsfeiern werden 10jährige Jungen vorgeführt, die mit leuchtenden Augen erklären, auch sie wollten Märtyrer werden. Auf der Homepage der palästinensischen Nichtregierungsorganisationen, die vornehmlich von der EU finanziert werden, ist ein kleiner Junge abgebildet, eingehüllt in eine palästinensische Flagge, die Fotozeile lautet: "Ein palästinensischer Kämpfer". Im System Arafat haben die Palästinenser nicht gelernt, mit den Mitteln einer demokratischen Gesellschaft und mit passivem Widerstand Israel zu begegnen. Gewaltfreie und zivile Aktionen haben sich in dieser Gesellschaft nicht als erfolgversprechende Widerstandsform entwickeln können, auch weil die politischen und religiösen Eliten keine demokratisch-zivilgesellschaftlichen Ideale entwickelt haben.

Von daher ist davon auszugehen, dass die Regierung Scharon nicht befürchten muss, in eine Krise zu stürzen, mit der die internen Widersprüche der Regierung offenbar würden. Im Gegenteil. Deutlich hat der antiarabische Rassismus auch in Israel längst die Meinungsführerschaft. PolitikerInnen wie die Knessetabgeordnete Naomi Chazan von Meretz erhalten Morddrohungen, weil sie weiterhin für einen gerechten Frieden eintritt.

Mit der Politik Scharons werden sukzessive die demokratischen und zivilgesellschaftlichen Fundamente Israels zerstört. Rassimsus und eine Politik, die Recht und Gesetz ignoriert, untergräbt die eigenen Werte und führt Israel in einen gefährlichen Bürgerkrieg.

In dieser Situation hat der Verzicht der US-Regierung, als Vermittler einzugreifen, die Lage weiter eskaliert. Gleichzeitig sind die europäischen Staaten mit ihrer eher auf langfristige, strukturelle Veränderungen abzielenden Mittelmeerpolitik bisher nicht in der Lage gewesen, diesen Platz einzunehmen. Die Erfolge des deutschen Außenministers, Scharon nach dem grausamen Selbstmordattentat vor einer Disko in Tel Aviv von Vergeltungsanschlägen abzubringen, und gleichzeitig von Arafat eine Erklärung (in englisch und arabisch) zu bekommen, mit der er sich von dem Attentat sofort distanzierte, führte zu Recht zu neuen Erwartungen an eine europäische Nahost-Politik. Krisenmanagement und strukturell angelegte Krisenprävention werden künftig gleichberechtigt die europäische Nahost-Politik bestimmen müssen.

Hinweis: Tagung

Kriegsgesellschaften - Gesellschaftskriege; Psycho-soziale Aspekte des palästinensisch-israelischen Konflikts, 9-11.11.2001 Ev. Akademie Bad Segeberg

Veranstalter: Deutsch-Israelischer Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten (DIAK), Heinrich Böll Stiftung und Ev. Akademie Bad Segeberg

Mehr Informationen: www.diak.org

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Krisen und Kriege
Michael Schlickwei ist Mitarbeiter des grünen Bundestagsabgeordneten Winni Nachtwei, Gründer und langjähriges Vorstandsmitglied von "Projekt Freundschaft Birzeit-Münster".